Boot
gleitet über braunes Wasser. Himmel grün. Wind duftet nach frisch
gefallenen Nüssen. Weit ist die Welt und keine Zeit, wohin das Auge
reicht.
Nur
abends ruft die Köchin. Kartoffelsuppe gibt es, wie beinahe jeden Tag.
Danach geht es weiter, hin zu fremden Ländern, wo in Höhlen taube, einäugige
Riesen lauern mit kinderfressenden Gänsen. Vor nichts haben sie Angst
außer vor Rananana, der Hexe mit den blauen Haaren und den spitzen
Krallen. Gefahren allüberall. Und ein Wunder ist es, dass Callas, die
kreischende Katze, Beherrscherin der Meere, noch niemand zerbissen hat.
Unter
den Brettern wohnt Kaspar, der Zwerg. Er ist der gute Geist des
Schiffes, doch ein Zauberwort verwandelt ihn in einen Dämon:
Sag
nicht:
„Es
ist acht!“
denn
dann,
hab'
acht,
kommt
Kaspar, der Zwerg
und
die Welle wird Berg.“
Der
Steuermann lenkt das Schiff durch das Meer, da gischt eine Welle über
ihn her. Er hält sich fest, am Steuerrad fest, und schreit voller
Furcht: „Gebt acht, das Schiff ist verflucht.“ Doch Kaspar, der
Gute, hört leider schlecht und hört, „Es ist acht!“ sein Böses
erwacht, er schleudert das Boot, ans Ende der Welt. Und alle sind tot!
Hoi,
wie weich die Landung ist.
„Noch
einmal“, lacht das Kind. „Kaspar soll nochmal böse sein.“
Die
harte Erde ist ein Bett, der Himmel eine Zimmerdecke, das Meer
Bretterboden und das Schiff ein Trog mit Nüssen, das Schlafzimmer der
Großeltern eine weite Welt.
„Schluß
für heute“, lächelt der alte Mann. „Es ist schon dunkel.“
„Schläft
die Sonne jetzt?“ fragt Lisa, die nicht schlafen will.
„Warum?“
„Weil
sie den ganzen Tag wach war.“
„Erzähl
mir eine Geschichte, Opapa. Was macht die Sonne den ganzen Tag?“ Sie
kuschelt sich an den vertrauten Körper.
„Am
Morgen erwacht sie. Dann streckt sie ihre Strahlen und dehnt sich, damit
sie munter wird. Wie du. Sie atmet tief ein. So.“
Der
Großvater wölbt seinen Bauch vor.
„Auch
im Winter?“ fragt das Kind vernünftig und schaut erwartungsvoll.
„Im
Winter kommt Itzeho, der Wind des Nordens. Er bläst seinen kalten Atem
über die Erde.“
Der
Großvater pfeift durch seine Zähne, so schaurig, dass es Lisa fröstelt.
„Die
Gräser ducken sich, und die Tiere flüchten in ihre Höhlen. Dort
warten sie auf den Frühling. Aber Itzeho trägt auch einen großen
Rucksack voll Schnee, den streut er auf die Erde, damit die Kinder
Schneemänner bauen können und Schlitten fahren und Eis laufen.“
„Ich
nicht“, schreit Lisa. „Da falle ich tausendmal hin.“
„Dann
wird es dir wie Opeka ergehen, dem Mädchen, das nicht laufen wollte.
Weil es immer hinfiel, beschloss es, einfach sitzen zu bleiben. Das sah
einfach aus, und so war es am Anfang auch. Bald aber ...“
„Franz!“
unterbricht die dröhnende Stimme der Großmutter die Erzählung. „Du
hast versprochen, Lisa spätestens um neun Uhr schlafen zu legen.“
„Ja“,
ruft der Großvater in die Küche. Und leise sagt er zu Lisa: „Diese
Geschichte erzähle ich dir morgen.“
Lisa
protestiert: „Aber die Sonne! Was macht sie am Abend?“
„Sie
ist müde. Wie du und ich. Sie legt sich in ihr Wolkenbett und deckt den
Himmel unter einer Sternendecke zu. Es wird dunkel.“
„Wie
in einem Loch?“
„Ja“,
sagt der Großvater, „wie in einem Loch. Und morgen, wenn du deine
Augen öffnest, ist die Sonne wach und leuchtet. Nur für dich.“
„Wenn
es regnet aber nicht.“
„Nein,
dann nicht“, lächelt Opapa. „Aber du wirst sehen, morgen scheint
die Sonne. Ich weiß es. Schlaf jetzt. Gute Nacht.“
„Noch
eine Geschichte“, fordert Lisa maßlos.
„Morgen.
Morgen ist auch noch ein Tag.“
Er
küsst Lisa sanft auf die Stirn. Kurze Arme umfassen seinen Hals, ziehen
großen Kopf zu kleinem Körper.
„Ich
hab' dich lieb“, strahlt Lisas Stimme und ihre Augen leuchten.
„Ich
hab' dich auch lieb“, flüstert der Großvater und erwidert gerührt
den zarten Kuss des Mädchens.
Am
nächsten Morgen scheint wieder die Sonne, wie der Großvater es
versprochen hat. Und schien sie nicht wirklich, so bastelte er ihr eine
aus Pappe, malte sie gelb an und der Himmel schien endlos blau.
***
„Wann
darf ich Opapa besuchen?“ Lisas Augen heften sich an die ihrer Mutter.
„Bald.
Dein Großvater ist im Krankenhaus.“
„Ich
weiß“, nickt das Kind. „Dort wird er gesund.“
Die
Mutter nimmt es in den Arm, drückt seinen weichen und festen Körper an
sich.
„Was
hast du?“ fragt Lisa und entwindet sich der Umklammerung.
„Nichts.
Ich hab' dich lieb.“
„Das
sagt Opapa auch. Ich will mit ihm Boot fahren. Und Kaspar soll mich auf
die Erde schmeißen. Und Itzeho soll Schnee bringen. Undundund... Mama,
wann darf ich zu Opapa?“
„Bald“,
wiederholt die Mutter. „Hilfst du mir Wäsche waschen?“
„Oh
ja!“ jubelt Lisa und stürmt in die Küche.
„Wann
kommt mein Opapa?“ Lisas Augen glänzen nicht mehr, sie kennt die
Antwort und hofft vergeblich auf eine neue. Die kommt nicht, wie der
Großvater nicht kommt.
Oder
diesmal doch? Die Mutter atmet schwer. Sie setzt sich in den großen
Stuhl und winkt ihr Kind zu sich. Das klettert auf ihren Schoß, richtet
sich zurecht.
„Weißt
du“, beginnt die Frau, „dein Opapa kann nicht mehr zu dir kommen.“
Lisa
richtet sich auf.
„Wann
ist denn endlich ‘bald’? Du hast gesagt, er kommt bald.“
Die
Mutter seufzt.
„Es
geht nicht.“
„Warum?“
will Lisa wissen. „Ist er fortgegangen?“
Der
Kopf vor ihr nickt.
„Wo
ist er?“
Die
Frau zögert, sagt schließlich:
„Der
Großvater ist im Himmel.“
„Dort,
wo die Sonne ist“, freut sich Lisa, rutscht vom warmen Schoß und
läuft zum Fenster. „Hier bin ich, Opapa. Kannst du mich sehen? Wann
kann ich dich besuchen?“
Die
Mutter geht zu ihr.
„Ja,
er kann dich sehen. Aber du kannst ihn nicht mehr besuchen. Der Himmel
ist zu weit weg.“
„Warum
ist Opapa dann dort?“
„Alle
Menschen kommen in den Himmel, wenn sie ... Großvater war schon alt.
Und müde. Er hat sein ganzes Leben lang schwer gearbeitet. Und nun darf
er bei seinen Freunden sein. Dort oben ist es schön. Großvater hat es
warm, immer scheint die Sonne, und er kann sich endlich ausruhen. -
Lisa, hörst du mir überhaupt zu?“
Lisa
steht still da. Sie hat ihren Daumen in den Mund gesteckt, dreht mit der
anderen Hand aus ihren kurzen Haaren eine kleine Locke, zieht stetig
daran, zieht schließlich so heftig, dass ihr Kopf sich zur Seite neigen
muss.
„Lisa!“
ruft die Mutter.
Das
Kind rührt sich nicht, seine Augen versuchen, die dunkle Wahrheit zu
erfassen. Plötzlich lacht es.
„Spielen
wir Clown, Mama?“
Die
Mutter nickt erleichtert.
Von
nun an fragt Lisa nicht mehr nach ihrem Großvater. Es ist, als hätte
das Kind ihn vergessen.
***
„Tut
es hier weh?“ will der Mann wissen und drückt auf Lisas Bauch. Der
zuckt unter der Berührung zusammen, das Kind schüttelt den Kopf. Der
Arzt wendet sich an die Frau.
„Sie
muss sofort ins Krankenhaus. Akute Blinddarmentzündung, wir haben nicht
viel Zeit.“
Die
Mutter nickt und streicht Lisa übers Haar.
„Ich
will nicht ins Krankenhaus, ich bin nicht müde“, ruft sie, während
sich langsam Tränen in den Augen sammeln. Ihre Mutter will sie umarmen,
das Kind wird zornig. Es wehrt sich gegen den Zugriff.
„Nein!“
ruft es entschlossen und läuft davon. Raus aus dem Zimmer. Ein Stuhl
fällt. Lisa achtet auf nichts, flüchtet in die Küche, unter den
Frühstückstisch. Dort macht sie sich klein, krümmt sich zusammen,
zieht die Beine an sich, drängt sich an die Wand.
Die
Mutter ist ihrer Tochter gefolgt, sie hockt sich vor sie, versucht ihr
zuzureden. Worte rieseln aus ihrem Mund, Lisa hebt beschwörend die Hände.
Die Mutter versucht sie hervorzuziehen. Lisa krabbelt blitzschnell an
ihr vorbei, rennt wieder zurück ins Wohnzimmer, sieht den Arzt, bleibt
mitten im Zimmer stehen, erstarrt. Sie atmet heftig ein, schreit einen
unbekannten Schmerz aus sich heraus, atmet ein, schreit, lauter, immer
lauter. Es scheint kein Ende zu nehmen. Das Gesicht rot. Tränen laufen,
ein Sturzbach, die Wangen hinunter. Die Augen weit aufgerissen, darin
Entsetzen, Angst.
Ratlos
sieht die Mutter den Arzt an:
„Ich
weiß nicht, was sie hat. Das ist das erste Mal, dass sie ...“ Sie
zuckt mit den Schultern, Tränen nun auch in ihren Augen, während Lisas
Schreien einen nicht endenwollenden Höhepunkt erreicht.
„Warten
Sie ein bisschen“, bestimmt der Arzt, als die Mutter sich ihrer
Tochter nähern will. Er geht zu Lisa. Ihre abwehrenden Hände zögern.
Der Mann nimmt sie sanft in die Arme. Wie abgeschnitten endet das Weinen
des Kindes. Sein Körper atmet aus, lehnt sich an den fremden Körper.
Lisa steckt den Daumen in den Mund, nimmt eine Locke ihrer langen Haare,
dreht sie. Das Boot auf braunem Wasser. Itzeho, der eisige Wind.
Rananana, die Hexe. Die einäugigen Riesen und die Sonne aus Pappe, die
über Lisas Bett aufging.
„Es
gibt keine Gänse, die Kinder fressen, weißt du“, nuschelt das Kind.
„Natürlich
nicht“, stimmt der Mann zu.
„Haben
die Gänse Opapa gefressen?“ will Lisa endlich wissen und hält sich
die Ohren zu.
„Wie
kommst du denn darauf?“ fragt die Mutter aus dem Hintergrund. Lisa
hört nicht. Sie klammert sich an den Arzt, der sie entschieden
hochnimmt.
"Wir
fahren jetzt ins Krankenhaus, Lisa. Dort wirst du gesund und bald kommst
du wieder nach Hause.“
„Nein“,
sagt das Kind leise und ergeben, „Opapa ist auch nicht bald gekommen.
Vom Krankenhaus kommt man nicht wieder nach Hause.“
„Wohin
denn?“ lächelt der Mann beruhigend.
„In den Himmel. Und
der Himmel ist ein schwarzes Loch.“
Erschienen in
"Das
große Buch der Kindheit"
Hrsg. Klaus Waller
Bertelsmann Club
GmbH 1990
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