Editorial

 

Professor Mag. Ulrich Mann
Herausgeber

23. September 2001

 

 

6-jähriger Bub als Präsident?

Die Reaktion des amerikanischen Präsidenten, sagte der Friedensforscher Galtung, gleicht der eines 6-jährigen Jungen.

Er redet von Rache und Vergeltung und vergisst dabei, dass die USA als Staat in den letzten Jahren immer wieder in fremde Staaten eindrangen.

Die Irrtümer der USA waren für viele, auch Zivilisten, tödlich.

Einmal trafen amerikanische Bomben die chinesische Botschaft, weil der Geheimdienst die Adressen verwechselt hatte.

Einmal traf es statt eines Terroristenlagers eine medizinische Fabrik.

Das ändert nichts an der Brutalität der Mörder, die als lebende Bomben New York angriffen - aber es kann einiges erklären.

 

Einfache Lösung

Wie verzweifelt müssen Menschen sein - ich meine die ausführenden, nicht die Drahtzieher, die ja kaum ein Risiko eingehen - , wenn sie bereit sind, sich und andere zu töten?

In welchem Elend leben sie, um daran zu glauben, dass ihnen im Jenseits das Paradies geschenkt wird?

Denn es ist ja Unsinn anzunehmen, diese Menschen seien bloß verrückt, als käme der Wahnsinn ohne Grund und ohne Ursache daher. Wer das annimmt, steht den islamischen Fundamentalisten so nahe, dass er/sie von ihnen nicht zu unterscheiden ist.

Ich weiß nicht, wie viele Kinder jede Sekunde an Hunger sterben, aber in einem Tag sind es wohl mindestens so viele wie in New York starben. Und für die hungernden Kinder gibt es keinen Tag Pause vom Sterben.

Das ist keine Aufrechnung der Toten, das ist ein Versuch, die Ursachen zu klären.

Ich habe selten so häufig das Wort "zivilisiert" gehört wie in den letzten Stunden. Und immer war jene Welt damit gemeint, in der keine Kinder verhungern. 

(In Klammer sei angemerkt, dass die Vergewaltigung von Kindern auf Videofilmen in der "zivilisierten" Welt nicht nur vorkommt, sondern bereits ein eigener Wirtschaftszweig ist!)

Aber es ist jene Welt, die dem Sterben ganz "zivilisiert" zusieht.

Es ist jene Welt, die von AIDS-Kranken in Afrika für Medikamente bares Geld will, wissend, dass diese Menschen es nicht haben. Diese Welt, in Form der Pharmakonzerne, prozessierte "zivilisiert" gegen einen Staat, nämlich Südafrika, weil dieser AIDS-Medikamente billiger einkaufte.

Es ist jene Welt, die ihre Abgase auf die andere Welt sinken lässt, damit Autos fahren können, während ihr Sondermüll an den Küsten Afrikas entsorgt wird.

Es ist jene Welt, in der Unternehmen ihr Milchpulver in der 3. Welt weiter bewerben und verkaufen, obwohl die Weltgesundheitsbehörde das verboten hat, weil Milchpulver die Kinder nicht gesund macht, sondern krank.

Würde diese "zivilisierte Welt" ihren Reichtum mit der anderen, der armen, der "unzivilisierten" teilen, gäbe es vielleicht noch ein paar tatsächlich Verrückte, die Bomben werfen wollen. Aber es gäbe nicht diese Unmenge an potentiellen Selbstmördern, die für materielle und immaterielle Unterstützung bereit sind, zu morden.

Armut macht krank. 

Und gleichgültig gegenüber dem Leben, auch dem eigenen.

Realistischerweise wird die zivilisierte Welt nicht mit der anderen teilen, daher ist die einfache Lösung leider die unmögliche Lösung.

 

Keine Lösung

Gefährlich und wahrscheinlich ist, dass die Emotionen und das kranke Volksempfinden siegen werden.

Das Feindbild haben die Medien bereits erschaffen. Es handelt sich nicht um den Hunger in der Welt, sondern um dunkle Araber, die keine Kultur haben, sondern bloß aufs grundlose Morden aus sind.

Über 90 Prozent der AmerikanerInnen sind laut einer Umfrage dafür, den Feind anzugreifen, auch wenn ihn keiner kennt.

Präsident Bush braucht angeblich einen Erfolg, damit seine Imagewerte sich verbessern. Ein Krieg ist dafür gut geeignet, schon Bush senior steigerte seine anlässlich des Golfkrieges.

Im ORF schwadronierte ein echter Österreicher tapfer, dass mit "diesen Menschen" nicht zu reden ist und es nur eine Möglichkeit gibt: Du oder ich. (Satirische Anmerkung: also doch zwei Möglichkeiten!)

Darum müsse man militärisch angreifen.

Darauf angesprochen, dass es weder einen Staat gäbe, der angegriffen habe, noch ein Völkerrecht, das ein solches Vorgehen rechtfertigt, antwortete der "zivilisierte" Mann, dass in diesem Fall Völkerrecht eben nicht gilt. Man stelle sich diesen Kerl als amerikanischen Präsidenten vor und plötzlich weiß man, wie seriös Bush bzw. seine Berater sind. Immerhin wird noch nicht der gesamte Islam zum Abschuss freigegeben, mehr noch: Bush senior weist darauf hin, dass Terroristen  nicht mit dem Islam verwechselt werden dürfen.

Dennoch: bei CNN schreien amerikanische Jünglinge nach Waffen, um die Feinde zu killen. Wer ihnen einen Feind nennt, kann davon ausgehen, dass dieser von den "zivilisierten" Jünglingen getötet wird.

Disneyworld hat übrigens seinen Betrieb nicht geschlossen. Es darf dort weiter gefeiert werden.

Es lebe die Fungesellschaft!

Tod der Vernunft?

 

Das Böse besiegen

Präsident Bush will das Böse besiegen und ist überzeugt, das in seiner Amtsperiode zu schaffen.

Ein schöner Kindertraum.

Den auch islamische Fundamentalisten träumen. Mit nur einem kleinen Unterschied: sie wittern das Reich des Bösen in den USA.

Diese kleine Differenz ist vernachlässigbar, wenn man davon absieht, dass in dem einen Fall die Amerikaner umgebracht werden müssen, im anderen Fall die Araber.

Die Gemeinsamkeit von beiden Positionen ist, dass sie ein Handeln jenseits von Vernunft, Sachlichkeit und Menschlichkeit einfordern.

Dass das Böse "immer und überall ist", wissen wir spätestens seit einem Lied der Ersten Allgemeinen Verunsicherung. Im Text war das damals ironisch gemeint, in den Erklärungen des amerikanischen Präsidenten weht aber nicht der geringste Hauch von Ironie.

Glücklicherweise sind bisher Handlungen unterblieben, die das "Böse" schlechthin ausradieren sollen. Das kann nämlich nicht gelingen, solange man "das Böse" nicht genau kennt, definiert und unter Umständen akzeptiert, dass unsere sogenannte "Zivilisation" an genau diesem "Bösen" zumindest beteiligt ist.

"Die Frucht der Gerechtigkeit wird der Frieden sein" sagte der deutsche Bundespräsident Johannes Rau am 14. September 2001 vor dem Brandenburger Tor. Dort fand eine Kundgebung mit 200.000 Menschen statt, die ihre Solidarität mit dem amerikanischen Volk und für eine Welt ohne Terror demonstrierten.

Und mit diesem Satz hat der deutsche Präsident eine der wichtigsten Ursachen für, nennen wir es der Einfachheit halber so, "das Böse" benannt.

Der Faschismus sucht seine HelferInnen bei den arbeitslosen Jugendlichen, der internationale Terror bei denen, die keine Zukunft mehr haben und daher bereit sind, ihr Leben wegzuwerfen.

Bei jenen, die nichts zu verlieren haben.

Und solange es sie gibt, wird der Terror, "das Böse", nicht zu besiegen sein.

Vielleicht ist der Terrorangriff auf New York der Anlass, inne zu halten und sich bewusst zu machen, was die Werte von Demokratie, Menschenrechten, Gleichberechtigung bedeuten - und dass diese Werte über denen von Gewinnen und Wirtschaftswachstum stehen.

Vielleicht ist der Augenblick gekommen, statt Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ideologien über Humanismus, Nächstenliebe und Solidarität nachzudenken.

Vielleicht ist es Zeit, einen Traum über eine menschengerechte Welt nicht nur zu träumen, sondern zu verwirklichen.

Martin Luther wurde erschossen, weil er diesen Traum öffentlich träumte.

Wenn wir ihn nicht bald verwirklichen, werden wir einen Albtraum erleben.