Neulich habe ich etwas ganz Seltenes gesehen:
Eltern, die ihre Kinder erziehen!
Der herrschende Leitsatz moderner Eltern lautet bekanntlich:
Erziehung geht mich nichts an. Das sollen die in der Schule machen.
Rücksicht muss gelernt werden
Und also auch gelehrt. Rücksicht meint hier übrigens nicht die gute Sicht im Auto nach hinten, sondern jene Eigenschaft, die Menschen miteinander friedlich zusammenleben lassen.
Obwohl Rücksicht irgendwie schon etwas mit „Zurückschauen“ zu tun hat. Im Lateinischen heißt Rücksicht ja „respectus“. Respekt wiederum bedeutet in unserem Sprachgebrauch so etwas wie Wertschätzung anderen Menschen gegenüber zu haben. Oder auch Tieren.
Womit ich wieder bei Leo gelandet bin. Rücksicht wird uns bekanntlich nicht in die Wiege gelegt, sie muss uns beigebracht werden.
Damit ist nicht jene Art von Erziehung gemeint, die Kinder zu dressierten Wesen macht, die später jeden Befehl ausführen, sei er noch so vertrottelt oder menschenfeindlich.
Aber auch nicht jene (Nicht-)Erziehung, die in einem seltsamen Glauben an das Gute im Menschen meint, das kleine Kind wisse von Geburt an, was das Beste für es und die Welt ist.
Mach bitte Platz
Es ist nämlich so, dass der Gang in unserem Haus etwas schwierig zu begehen ist. Wenn ein — und sei es auch nur ein kleiner — Mensch hier steht, kann der zweite das Haustor nicht öffnen.
Nun stand also ein netter Bub von etwa vier Jahren vor der Tür und versperrte den Zugang zu ebendieser. Von einiger Entfernung ertönte nun die freundliche Stimme der Mutter:
„Leo, geh bitte auf die Seite, der Mann möchte hinausgehen.“
So wundersam schon dieser Satz in meinen Ohren klang, nun öffnete das Kind auch noch die Eingangstür und trat zur Seite.
„Danke, das ist aber lieb von dir“, flüsterte ich dem Knaben ergriffen zu und hätte ihm beinahe über den Kopf gestreichelt.
Ich wandte mich seiner Mutter zu, die freundlich lächelte.
Ich sah auf das kleine Kind, das den Hinweis von ihr problemlos aufgenommen und befolgt hatte.
Der Urschrei
Und ich dachte an den süßen Kleinen, den ich heute Vormittag in der U-Bahn gehört hatte. Ich saß viele Meter von ihm entfernt und hörte ihn andauernd laut lachen und schreien.
Aus der Ferne konnte ich immerhin erkennen, dass er mit seinen süßen Schuhe auf seinem Sitz auf- und abhüpfte, während er den Umstehenden die Zunge zeigte.
Seine Mutter widmete sich konzentriert ihrem Handy und hatte wohl Kopfhörer auf, die alle Laute ihres Kindes perfekt abschirmten. Anders konnte ich mir die Ruhe nicht erklären, die sie ausstrahlte.
Besser gesagt: Anders ist das Desinteresse an ihrem Kind nicht erklärbar.
Ich stellte mir vor, wie dieses Kind in ein paar Jahren seiner Lehrerin nicht mehr die Zunge, sondern den Mittelfinger zeigt. Und hatte große Lust, die Frau anzuschreien und sie zu fragen, warum sie ihrem Kind nichts beibringen will.
Es nicht beachtet.
Es zu einem rücksichtslosen Egoisten erzieht, indem sie nicht erzieht.
Ich wollte einen Urschrei machen, damit die Frau aus ihrer Passivität erwachte.
Ich habe es nicht gemacht. Ich fürchte, ich bin zu gut erzogen worden.