Literarische Kostproben – Die Schachtel

Leseprobe der Kurzgeschichte "Die Schachtel"

Leseprobe aus „Als mein Ich verschwand“

Das ist die elfte erste Seite von zwölf Kurzgeschichten meines Buches
„Als mein Ich verschwand“

Demnächst folgt die letzte Leseprobe der titelgebenden Geschichte.

Schöne Tage wünscht allen:
Erich Ledersberger

 

 

Die Schachtel

Es war ein weiter Weg von Wien nach London gewesen. Im Schlafwagen nach Calais, dann mit dem Schiff weiter. Manchen wurde bei der Überfahrt übel. Als er sich hinausbeugte über das Meer und nach oben blickte, flogen ihm die Reste eines Essens entgegen, das ein Fahrgast zwei Stockwerke höher von sich gab. Er zog sich rechtzeitig zurück.

Die Rückkehr von London nach Wien war kürzer. Das erste Mal über den Wolken, das hätte schön sein können.

Er sollte einige Wochen in London verbringen, um seine Sprachkenntnisse für die Schule zu verbessern. Er hatte von anderen Erlebnissen geträumt. Es war das legendäre Jahr 1968, in dem die Welt sich veränderte. Zumindest ein bisschen.

Am Morgen des 20. Juli war ein Angestellter des Unternehmens gekommen, mit dem sein Vater Kontakt hatte, und teilte ihm mit, dass es seinem Vater schlecht gehe. Auf die Fragen, was genau passiert sei, ging der Mann nicht ein. Jedenfalls müsse er sich beeilen, die Zeit dränge.

Es war nach dem Frühstück gewesen, einer Kombination von mehligen Würstchen und Eiern. Am Tag vorher hatte es Eier und Schinken gegeben. Der Ablauf zwischen diesen Alternativen änderte sich während seiner kurzen Sprachreise nicht. Auf Würstchen mit Eiern folgten Eier mit Schinken, danach Würstchen mit Eiern. Dazu blasse und gummiartige Klumpen, die von ihrer Form entfernt an Semmeln erinnerten.

Unter dem Tisch wartete der widerliche Hund der Familie auf Abfälle. Auffordernd schleckte er die Waden der Frühstückenden ab, mit Vorliebe seine, die des Gastes vom Kontinent. Er versuchte, den Hund unauffällig zu treten, damit dessen Schmerz jeden Gedanken ans Fressen vertrieb. Es gelang nicht. Jeden Morgen fand dasselbe Zeremoniell statt unter den freundlichen Augen der englischen Gastfamilie.

Es fiel ihm von Morgen zu Morgen schwerer, die aufkeimende Übelkeit zu unterdrücken, die von seinem Magen hinaufschlich in die Kehle. Aber da seine Eltern auf gutes Benehmen Wert legten, bemühte er sich redlich, nichts aufkommen zu lassen.

Das Taxi hatte schon gewartet. Swinging London war vorbei, noch ehe er es näher kennengelernt hatte.

Im Flugzeug hatte er seine erste Zigarette geraucht. Golden Smart hieß sie. Es war jene Zeit, in der niemand an ein Rauchverbot dachte. Nikotin galt als Inbegriff von Freiheit und Brüderlichkeit. Dem konnten sich Fluglinien nicht entziehen, sie boten Zigaretten an Bord gratis an.