Viele werden sich an diesen Satz gar nicht mehr erinnern können, aber es gab ihn.
Was waren das für Zeiten! Wir konnten zu spät kommen, sogar einen Termin versäumen. In jenen guten Zeiten, als das Handy noch nicht auf der Welt war.
Es wird mit dem Summaton
Wer damals, vor etwa 60 Jahren, die genaue Uhrzeit wissen wollte, musste eine bestimmte Telefonnummer anrufen. Eine freundliche Stimme sagte dann: „Es wird mit dem Summaton 12 Uhr, 10 Minuten und 20 Sekunden“. Genau, Summaton.
Als Kind fand ich die Präzision der Ansage beeindruckend. Manchmal hörte ich minutenlang zu, um das Verstreichen der Zeit akustisch zu empfinden. Dann stellte ich meine Uhr genau ein, wissend, dass sie wenige Stunden später von der Telefonansage abweichen wird. Denn damals gingen auch die Uhren nicht genau.
Wer in der ersten Unterrichtsstunde zu spät kam, hatte noch die wenig originelle Ausrede zur Verfügung: „Meine Uhr ist nachgegangen“.
Selbstverständlich akzeptierte kein Lehrer solche Entschuldigungen, aber man konnte sich danach zumindest ungerecht behandelt fühlen.
Problematischer waren die vereinbarten Treffen mit Freunden. Die Unpünktlichkeit einiger Freunde bezog sich nicht nur auf den Schulbeginn, auch die gemeinsamen Ausflüge mit Fahrrad oder später Moped waren durch ungeduldiges Warten gekennzeichnet. Je größer die Anzahl der Mitfahrer, desto größer war die Wartezeit. Irgendjemand kam auch nicht zu spät, sondern schlicht gar nicht. Sollten wir warten? Oder losfahren? Wie haben wir solche Situationen ohne Handy gemeistert?
Die Diskussionen dauerten, dazu kam noch ein weiteres Problem: Wohin wollten wir überhaupt fahren? Die Minuten rannen dahin, wir hatten Zeit im Überfluss. Langeweile machte sich breit – und es gab keine Möglichkeit, aufs Handy zu blicken und die reale Welt zu vergessen. So standen wir also da, machten Witze, sahen uns in die Augen und irgendein Klugscheißer zitierte Helmut Qualtinger:
„Ist doch wurscht. Wir wissen nicht, wo wir hinfahren. Dafür sind wir schneller dort.“
Die Zeit eilt, nutze sie. Oder so
Ob diese Figur geahnt hat, dass die Menschheit im westlichen 21. Jahrhundert die Zeit derart „nutzt“, dass sie dafür bereits eine Krankheit erfunden hat?
Burn-Out heißt der Zustand, in dem sich viele finden, die ständig die Zeit (be)nutzen, um keine Minute zu versäumen. Das im Minutentakt geregelte Leben findet in allen Bereichen statt, in der Arbeit, am Wochenende, im Urlaub.
Kein Lob des Müßigganges mehr (Bertrand Russell), der Menschen womöglich zum Nachdenken bringt. Eine der größten Katastrophen der westlichen Welt ist die Untätigkeit, also jene Zeit, in der wir vor uns hinstarren und unseren Gedanken freien Lauf lassen.
Dann kommen wir womöglich auf „dumme Gedanken“, etwa ob es etwa tatsächlich sinnvoll ist, jedes Jahr ein neues Handy zu kaufen oder jede Woche ein neues Kleidungsstück. Und Konsumenthaltung schadet bekanntlich dem Wirtschaftswachstum und den Arbeitsplätzen.
Kontrolle ist gut.
Damit niemand auf solche Ideen kommt, werden wir kontrolliert. Noch besser: Wir kontrollieren uns selbst. Mit einer Freude und einem Engagement, dass Außerirdischen sicher ein Grausen überkommt, so sie dort draußen in einer Demokratie leben.
Minütlich speichern Menschen ihre Herzfrequenz, die tägliche Schrittanzahl und Laufstrecken ins Internet. Fotos, vorzugsweise mit sich selbst im Mittelpunkt, werden millionenfach in so genannte „soziale“ Medien hochgeladen und erfreuen die daheim gebliebenen Freunde.
Die Kommentare fallen entsprechend mitfühlend aus.
„Super.“ „Gut siehst du aus.“ „Wow.“ „So schön!“
Damit niemand so viele Wörter schreiben muss, können so genannte Emojis eingefügt werden. Das geht schnell, es wird keine Zeit verloren. Langeweile und Müßiggang ade. J
Nur ein übler Spaßverderber würde Kommentare abgeben wie „Ganz schön alt geworden!“, „Früher warst du schlanker“ oder „Wie siehst du denn aus?“.
Das Ende einer Freundschaft wäre besiegelt. L
Vertrauen stört!
Interessanterweise stoßen wir hier auf einen Widerspruch. Einerseits fällt es Kindern immer schwerer, sich zu konzentrieren – auch das ist ein Teil der Selbstkontrolle –, andererseits versuchen immer mehr Eltern, Kontrolle nicht nur über sich, sondern auch über ihre Kinder zu erlangen.
Eltern der so genannten Mittelschicht, die ihre Kleinen alleine in die Schule gehen lassen, sind an sich schon verdächtig und wer die Freizeit der Kinder außerdem nicht bis zum Schlafengehen durchorganisiert, vernachlässigt die eigene Brut.
Glücklicherweise gibt es Hilfe von außen. Das Unternehmen Logitech etwa wirbt für ein Produkt, das rund um die Uhr „Videostreaming Ihres Zuhauses“ sendet.
„Sorgen Sie für Rundumschutz, indem Sie Ihre Kinder beaufsichtigen, wenn sie aus der Schule zurückkehren.“
Big parents are watching you.
Noch ein Glück, um die Tante Jolesch zu zitieren, dass ich im vorigen Jahrtausend aufgewachsen bin. Damals durfte ich noch mit dem Fahrrad auf die gefährliche Simmeringer Haide radeln. Alleine!
Und Fußballspielen auf einem Platz, der für uns Kinder verboten war.
Glücklicherweise hat uns dabei keine Videoanlage beobachtet. Nur der Platzwart vertrieb uns manchmal. Ganz analog und mit einem Schäferhund. War spannender als jedes Videospiel.
In diesem Sinn:
eine schöne Woche
Erich Ledersberger