Meine Schulfreundin Angela fragte neulich, warum denn immer mehr Männer weinen. Sogar auf dem Fußballfeld sehe sie statt Männern, die keinen Schmerz kennen, nur heulende Figuren umherlaufen.
Ihre These: Es handelt sich um ein materielles Problem.
Wer wird denn weinen?
„Wenn man auseinander geht,
wenn an der nächsten Ecke schon ein Anderer steht.
Man sagt Auf Wiedersehen und denkt sich heimlich bloß
Na endlich bin ich wieder ein Verhältnis los.“
Das waren noch Zeiten, als Marlene Dietrich so sachlich und kühl argumentieren konnte. Heute weinen nicht nur Frauen, sondern immer mehr Männer, was die Tränensäcke hergeben. Am liebsten in der Öffentlichkeit, etwa wenn sie eine Fußballschlacht verloren haben.
Beim Finalspiel der Champignons Liga war es für den Kameramenschen schwierig, Männer ohne Tränen zu finden. Die einen weinten, weil sie mit einem Schulterwurf aus dem Spiel geschleudert worden waren oder als Tormann den Ball dem Gegner auf den Fuß geworfen hatten; die anderen weinten, weil sie gesiegt hatten.
Weinen hat nach der Oskar-Verleihung auch alle möglichen Sportarten ereilt.
Die materielle These
Meine Schulfreundin Angela vermutet, dass jeder Sportler bei einem Spiel eine bestimmte Menge Flüssigkeit ausscheidet. Weil Klogänge während des Spiels verboten sind, muss die Ausscheidung über Schweißorgane, Ausspucken oder Weinen vor sich gehen.
Nachdem das ständige Ausspucken imagemäßig nicht gut rüberkommt – spuckende Werbeträger sind nur bedingt massentauglich –, wurden Fußballspieler ermahnt, das ständige Auswerfen von Speichel zu vermeiden.
Im Sinne eines ausgeglichenen Wasserhaushalts muss die geringere Spuckmenge durch größere Tränenmengen ausgeglichen werden.
Die soziologische These
Meine These ist eine andere: Die traditionelle Rolle des Mannes ist in zivilisierten Gesellschaften problematisch geworden. Die USA sind derzeit davon ausgenommen, wer kann sich schon einen weinenden Trump vorstellen?
Andernorts soll der Mann seine Macho-Kultur in Frage stellen und sich irgendwie anders verhalten. Aber wie?
Der arme Mann weiß das nicht. Irgendwie soll er Gefühle ausdrücken, was ihm angeblich fremd ist. Und weil Frauen, so wird behauptet, mehr Gefühle haben als er, was man auch daran erkennt, dass sie oft weinen, hat der angepasste Mann beschlossen, auch Gefühl zu zeigen.
Daher weint er.
Es gibt noch viel zu tun!
Die Frage für den normalen Mann, der nur selten Fußballer ist: Wann soll er weinen?
Bei Gehaltsverhandlungen, wenn die Chefin wieder darauf hinweist, dass er leider viel zu oft Pflegeurlaub für sein krankes Kind beantragt?
Beim Abschied an der Straßenbahnhaltestelle, wenn die Freundin ins Büro fährt und erst spätabends nach Hause kommt?
Beim Elternsprechtag, wenn die Klassenvorständin ihm mitteilt, dass der Aufstieg in die nächste Klasse äußerst unsicher ist?
Es ist alles sehr kompliziert!
Sicher ist: Das aktuelle Lied aus alten Zeiten ist nicht mehr wie jenes von Marlene Dietrich, sondern „Es geht eine Träne auf Reisen“ von Salvatore Adamo.
Viele Freudentränen (die gibt es auch!)
wünscht allen
Erich Ledersberger