Warum unsere Kinder Tyrannen werden

Der polemische Titel des Buches von Michael Winterhoff täuscht. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie beschreibt nämlich jene Wirklichkeit, die in der Pädagogik lange Zeit vertuscht wurde. Kinder galten ab etwa 1968 als liebe, unschuldige Wesen, die sich gut entwickeln, wenn man sie sich „frei“ entwickeln lässt.

Frei meinte allerdings, dass Kinder wissen, was für sie gut ist. Ein befreundetes Paar ließ damals sein Kind den Zeitpunkt bestimmen, wann es schlafen ging. Das Mädchen war gerade drei Jahre alt und beschloss, dass Mitternacht der richtige Zeitpunkt sei. Ab 21 Uhr quengelte es, schrie, weinte, lief dazwischen von einem Zimmer ins andere — aber es war noch nicht so weit, ins Bett zu gehen. Um Mitternacht fiel es auf den Teppichboden und schlief ein. Sein Zustand glich mehr einer Ohnmacht als einem erholsamen Schlaf.

Was damals, in den 70-er Jahren, die Ausnahme war, scheint heute weit um sich gegriffen zu haben. Michael Winterhoff interviewte eine Lehrerin zu dem Thema:

Wenn ich etwa sehe, dass speziell montagmorgens ganze Klassen im Grunde unfähig sind, dem Unterricht zu folgen, kann ich mir schon denken, wie das Wochenende ausgesehen haben muss. Der TV-Konsum ist enorm, gleichzeitig bleibt ausreichende Bewegung natürlich auf der Strecke. Die Kinder kommen spät ins Bett und werden dabei von den Eltern auch zu wenig kontrolliert. Die Auswirklungen haben wir dann in der Schule zu spüren.

Woher kennen Sie diese Ursachen? Sind das Vermutungen?

Nein, das sind keine Vermutungen, sondern die Kinder erzählen das ganz selbstverständlich in der Schule. Sie empfinden es ja als völlig normal, diese Erwachsenenrechte zu besitzen und zu leben. Schwierig ist es manchmal, das Verhalten der Kinder auf diese vergleichsweise banalen Ursachen zurückzuführen, da man bei auffälligen Kindern immer sofort das Stichwort ADHS im Hinterkopf hat.“

Falsches Verhalten bekommt den Namen einer Krankheit in der Hoffnung, dass diese „Krankheit“ geheilt werden kann. Am besten mit einem Medikament, dann kann das haus-, nämlich von Eltern gemachte Problem abgeschoben werden.

Kinder sind keine Partner
Jedenfalls nicht von Eltern, höchstens von Gleichaltrigen. Im Gegensatz dazu sieht Michael Winterhoff Eltern, Kindergärten und Schulen, die den Unterschied zwischen Lehrenden und Lernenden verleugnen. (Ein anderer Schritt in diese Richtung scheint mir der Begriff „Kunde“ zu sein, der bisweilen in Diskussionen die Runde macht. Schule solle „kundenorientiert“ handeln. Als hätten die Schülerinnen und Schüler sich mich als Lehrer ausgesucht. Und umgekehrt! Vielleicht ist auch diese Reihenfolge bereits eine Folge jener fatalen Umkehrung, die Jugendliche „über“ Erwachsene stellt.)

In dem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ werden viele Einzelbeispiele genannt. Unter anderen der fünfjährige Tom, der im Kindergarten mit Stühlen um sich geschmissen hat. Toms Eltern erzählen in der Praxis von Michael Winterhoff, dass die Erzieherin sich „Gedanken über die Gründe für Toms Verhalten mache (also ihrer vermeintlichen Rolle als Diagnostikerin gerecht zu werden versucht) und ihnen Fragen nach eventuellen Eheproblemen gestellt habe.

… Ich prangere das Verhalten der Erzieherin nicht als falsch an: Sie muss selbstverständlich überlegen, womit das Verhalten des Kindes zu tun haben könnte. Was jedoch komplett fehlt, ist der Impuls, Tom einzugrenzen und in seinem maßlosen Verhalten zu regeln.“

Psyche braucht Hilfe
Während Erwachsenen klar ist, dass der Körper eines Kindes sich entwickelt und Eltern ihren Kindern bei Gehversuchen helfen, scheint das bei der Entwicklung der Psyche unklar. Nach Jahrhunderten „schwarzer Pädagogik“ — der Begriff meint in etwa die mitunter brutale Unterordnung des Kindes in sein Umfeld — folgte eine „anti-autoritäre“ Pädagogik: Kinder brauchen keine Regeln. Übrigens eine weitgehend falsche Interpretation der berühmten Schule von Summerhill.

Michael Winterhoff weist darauf hin, dass die Psyche sich ebenfalls entwickelt — und zwar nicht automatisch, sondern vor allem durch den Einfluss der Umwelt. Haltungen werden auch psychisch durch Wiederholung gelernt.

Wenn Eltern „schon Kleinstkindern weitestgehend Autonomie und Selbstständigkeit zubilligen, handeln (sie) nicht anders als ein Tennistrainer, der seinem Schützling gar nicht erst Schläger und Ball in die Hand gibt, sondern sofort beginnt, mit ihm taktische Finessen und Spielstrategien zu diskutieren. Dieser Spieler wird zwar so tun, als ob er alles verstünde, und versuchen, die Anweisungen auf dem Spielfeld umzusetzen, kann jedoch auf Grund seiner mangelnden technischen Voraussetzungen nur scheitern.“

Kinder zu lehren, dass sie einen Tisch decken, erfordert einige Jahre. Wer diese Zeit verstreichen lässt und darüber diskutiert, ob für das Essen neben der Gabel auch das Messer nötig ist, überfordert sie. Wer glaubt, dass die menschliche Vernunft sich von selbst entwickelt, unterliegt einem Irrtum. Verhalten muss gelernt werden. Sonst wäre der Mensch instinktgesteuert.

Heute sind LehrerInnen in der Schule mit Jugendlichen konfrontiert, die häufig nicht zuhören oder stillsitzen können. Einfache gesellschaftliche Regeln werden — im besten Fall — staunend zur Kenntnis genommen. Oft ohne Folgen.

Die gestörte Gesellschaft
Manche Leserinnen und Leser werden dieses Buch als Angriff auf die positiven Seiten einer „neuen Pädagogik“ interpretieren, in der Kinder und Jugendliche als Menschen wahrgenommen werden. Sie sollten mit diesem Urteil nicht zu schnell zur Hand sein. Viele Argumente treffen die Wirklichkeit von Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern. Und dass hier nicht die „Schuld“ auf einzelne Menschen geschoben wird, sondern die Verantwortung auch (aber nicht nur!) die Gesellschaft trifft, steht im letzten Kapitel des Buches.

Michael Winterhoff beschreibt darin, dass ihn sein Weg von der Analyse des „Systems Familie“ hin zur Analyse des „Systems Gesellschaft“ führt. Deren Wandel verläuft beinahe mit Lichtgeschwindigkeit: Was heute stimmt, ist morgen überholt. Zumindest, wenn man den „Informationen“ der Medien bedingungslos glaubt.

„Erkenntnisse“ werden publiziert und als „wissenschaftlich“ ausgegeben. Zur Schweinegrippe etwa gibt es so viele „Erkenntnisse“, dass die Entscheidung für Impfung oder gegen sie zum Lottotipp wird. Kein Wunder, dass die Folge Ratlosigkeit ist.

Für die große Mehrheit der Menschen jedoch gleicht die moderne Situation einem Hamsterrad. Sie mühen sich ab, wollen gerne Schritt halten mit dem Fortschritt, haben Angst, als rückständig und unmodern zu gelten..“

Mit einem Ergebnis, das viele wohl kennen:

Stellen Sie sich eine Geburtstagsparty vor, auf der zehn Erwachsene zusammenstehen, um sich zu unterhalten. Plötzlich kommt ein Kind hinzu und sagt „šHallo’, fordert also Zuwendung ein.
Fast immer wird es heute so sein, dass die Unterhaltung der Erwachsenen sofort unterbrochen wird und man sich dem Kind zuwendet, anstatt das begonnene Gespräch zunächst zu beenden, um dann dem Kind Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Das Kind macht also in diesem Moment die Erfahrung, zehn Erwachsene auf einmal steuern zu können. Gigantisch! Niemand jedoch bemerkt, dass dem Kind in dieser Situation, die nur aus Zuwendung und Aufmerksamkeit zu bestehen scheint, eine existentielle Erfahrung verweigert wird, nämlich die, sich ausrichten zu müssen, warten zu müssen, bis das eigene Begehren befriedigt werden kann. Würden die zehn Erwachsenen sich entsprechend verhalten, würde das heute fast immer als lieblos, abweisend oder schroff fehlgedeutet.“

Übrigens scheint es nach meinen Erfahrungen so zu sein, dass auch Erwachsene sich immer häufiger in die Situation des beschriebenen Kindes versetzen — Unterbrechungen von Gesprächen finden auch dort statt. Schließlich ist das eigene Problem das wichtigste der Welt. Oder?

Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden Oder: Die Abschaffung der Kindheit; Gütersloher Verlagshaus, 26. Auflage, 2009 ISBN: 978-3-579-06980-7

 

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