Immer wieder finde ich es erstaunlich, mit welcher Verspätung hierzulande „Nachrichten“ verbreitet werden, die andernorts längst ins Land der (schlechten) Träume verlagert wurden.
Die neue Nummer des profil zeigt das mit der Schlagzeile „Warum Frauen und Männer sich nicht verstehen“. Das erinnert doch wunderbar an den Bestseller „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ und wahrscheinlich erhoffen sich die Erfinder und -innen der „Headline“ einen ähnlich großen Erfolg.
Originell geht es in dem Leitartikel jedenfalls zu. Frauen und Männer reden angeblich permanent aneinander vorbei, wobei Frauen mehr reden als Männer, das sehen auch sudanesische Bauern so, die meinen: „Drei Frauen ergeben einen Markt.“
Eine Linguistin wird zitiert, für die „Frauensprache als Sprache der Verständigung“ gilt, die „eine heilende Qualität“ habe. Glücklich also der Mann, der auf einem Markt mit vielen Frauen einkauft, vielleicht wird er dabei sogar von seinem Geschlecht geheilt?
Wobei: Männer kaufen wahrscheinlich selten ein, weil sie „vertikal kommunizieren (hierarchisch, auf Konfrontation gepolt), Frauen horizontal (kooperativ, auf Verständigung gerichtet)“. Weil Verkäuferinnen das nicht mögen, kommen die Männer nie zu ihren Lebensmitteln und schicken daher ihre Frauen auf den Markt. So oder so ähnlich geht es in der Welt von profil zu.
Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn
Aber nicht alle. Gefühlsmäßig sind die Männer nämlich arm dran.
Frauen haben „einen achtspurigen Highway, um ihre Gefühle auszudrücken, Männer nur eine Landstraße“. Das sagt angeblich eine Neuropsychologin und ohne dieses Wissenschaftsgebiet kommt heute niemand mehr aus.
Kein Wunder, dass ich missmutig bin: Während ich auf meiner Landstraße der Gefühle missmutig dahin krabble, brausen die Frauen auf ihrer Gefühlsautobahn dahin und haben’s lustig!
Dabei kann ich gar nichts für meinen Mangel, der hat mit meiner Vergangenheit zu tun, „mit der Jobverteilung in der Steinzeit. Männer kümmerten sich seit jeher um die Jagd, weshalb ihr räumliches Vorstellungsvermögen besser ausgeprägt sei“.
Ich verstehe zwar nicht, warum mir meine Frau immer erklären muss, wo Westen und Osten ist, angeblich eine männliche Domäne sondergleichen, aber irgendeine Neurobiologin weiß sicher die Ursache dafür.
Selbstverständlich darf auch das Vorurteil von der weiblichen Multitask-Fähigkeit nicht fehlen:
„Zusätzlich sind die weiblichen Gehirnhälften besser vernetzt. In Computertomografien blitzen bei Männern oft nur gewisse lokale Gehirnregionen auf, während bei Frauen häufiger mehrere Bereiche gleichzeitig aktiv werden. Womit auch die These von der männlichen Talentlosigkeit für ‚Multitasking‘ eine wissenschaftliche Erklärung findet.“
Oder was im profil halt für Wissenschaft gehalten wird.
[Die kursiven Textteile sind dem „Nachrichten“magazin wörtlich entnommen.]
Die Geschlechterlüge
Statt Vorurteile und Mythen zu überliefern, hätte die Redaktion auch das Buch „Die Geschlechterlüge“ von Cordelia Fine lesen können. Die Autorin hat zwar auch Psychologie und Neurowissenschaften studiert, kommt aber zu etwas anderen Ergebnissen. Und sie beweist das mit einer unglaublichen Menge an wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Debatte über ein „weibliches“ und ein „männliches“ Gehirn erinnert sie nämlich an einen französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts.
„Frauen seien ‚unfähig, zu Wahrheiten vorzudringen, die nicht ohne Mühe zu erkennen sind‘, denn ‚alles Abstrakte ist ihnen unbegreiflich‘. Es gibt, so seine These, dafür eine neurologische Erklärung: die ‚zarte Beschaffenheit der Gehirnfasern‘. Es muss wohl nur ein abstrakter Gedanke zu viel auftauchen, und — ping! – sind diese Fasern auch schon gerissen.“
Heute reißen sie nicht, heute blitzt es im Gehirn und wir alle dürfen zuschauen durch die bildgebenden Verfahren. Dass die Blitze nichts darüber aussagen, was im Gehirn passiert, vergessen wir meistens, weil die Bilder so schön sind.
Und es ist so schön einfach, wenn das sexuelle Geschlecht, wie im profil behauptet, auch schon etwas über den Charakter eines Menschen aussagt oder über Fähigkeiten wie Einparken und Zuhören. Da muss nicht lange nachgedacht werden, da genügt ein Blick aufs Gegenüber — und schon ist (fast) alles klar.
Wenn dieses Denkmuster auf andersfarbige Menschen angewendet wird, ist das Rassismus? Aber bitte! So genau darf man die Sache nicht nehmen.
Cordelia Fine tut es dennoch und weist etwa darauf hin, dass irgendwas an der These, dass Frauen und Männer unterschiedliche „Dialekte“ sprechen und sich daher missverstehen, nicht stimmen kann. Bei einer Metaanalyse mit insgesamt 4.000 Versuchspersonen konnte etwa kein Geschlechtsunterschied bei der Verarbeitung von Wörtern gefunden werden.
Auch bei der beliebten biologischen Erklärung, die Hormone machen den charakterlichen Unterschied zwischen Frau und Mann aus, kommt die Autorin ins Grübeln:
„Normalerweise beteiligen sie (männliche Ratten, Anm. des Schreibers) sich nie an der Brutpflege. Wenn man jedoch eine neugeborene Ratte mit einem ausgewachsenen Rattenmännchen in einen Käfig steckt, wird sich Letzteres nach wenigen Tagen um das Junge kümmern, als ob es die Mutter wäre. … Die Schaltkreise für Brutpflege sind im männlichen Gehirn ebenso vorhanden, selbst bei Spezies, bei denen Brutpflege durch den Vater normalerweise überhaupt nicht vorkommt. Wenn es einer männlichen Ratte gelingt — und zwar ganz ohne Unterstützung durch einen der gängigen Rat(t)geber zur Säuglingspflege – , sich um ihren Nachwuchs zu kümmern, dann, so sollte man meinen, stehen die Chancen für Menschenväter doch ziemlich gut.“
Auf 374 Seiten führt uns Cordelia Fine vor, wie gering die Unterschiede zwischen den sexuellen Geschlechtern sind — und wie gerne Vorurteile mit Hilfe von pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen aufgebauscht werden, wie die, dass Frauen und Männer unterschiedlich ticken. Vielleicht mit der Absicht, dass die tatsächlich existierenden und geschlechterübergreifenden Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht so auffallen?
Neurosexismus
Vielleicht lesen die Redakteurinnen und Redakteure des profil den Appell von Cordelia Fine an Verlage und Journalisten, damit sie das nächste Mal statt Vorurteile Informationen verbreiten können:
„Ich finde es beängstigend, dass man zum Thema männliches und weibliches Gehirn offenbar jeden beliebigen Blödsinn behaupten kann, der einem gerade in den Kram passt … .
… Neurosexismus begünstigt schädliche, diskriminierende, potentiell sich selbst erfüllende Stereotype. Vor drei Jahren stellte ich fest, dass die Erzieherin in dem Kindergarten, den mein Sohn besucht, ein Buch las, in dem behauptet wird, sein Gehirn sei nicht in der Lage, eine Verbindung zwischen Gefühl und Sprache herzustellen. Also beschloss ich, dieses Buch zu schreiben.“
Es wäre gut, wenn viele es lesen würden — macht zwar jede Menge Vorurteile zum Thema Frau/Mann kaputt, regt aber das Denken an. Und wer gerade an ein bildgebendes Gerät angeschlossen ist, verursacht möglicherweise auf dem Bildschirm ein kleines Feuerwerk.
Aber Vorsicht: Das Feuerwerk erklärt leider keine Ursachen!
[Die kursiven Textteile sind dem Buch „Die Geschlechterlüge“ entnommen, eine Rezension gab es vor einiger Zeit auch auf Kakanien.
Fine, Cordelia, Die Geschlechterlüge, aus dem Englischen von Susanne Held, 2012, Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-94735-9]