Kaum ein Mensch kommt in Berlin um das „KaDeWe“, das „Kaufhaus des Westens“ herum. Entweder man besucht es, um den Ekel vor der Verschwendungssucht einer dekadenten Gesellschaft ins Unermessliche zu steigern oder man konsumiert begeistert, was der Geldbeutel hergibt. Im vorigen Jahrhundert, als die Stadt halbseitig kommunistisch war, symbolisierte das KaDeWe noch den Reichtum des Westens, genauer: den Reichtum einiger Teile des Westens. Das KaDeWe ist aber keine Erfindung der CIA sondern über 100 Jahre alt. Der „Westen“ stand damals nicht für Kapitalismus: der Westen, das waren die – 1907 – neuen Bezirke Tiergarten, Charlottenburg und Wilmersdorf. Das Kaufhaus wurde in einem Jahr fertig gestellt, was uns Gegenwärtige wundert, und ist heute angeblich das größte Warenhaus Kontinentaleuropas.
Und die größte Folterkammer Europas. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Zum Beispiel im zweiten Stock. Dort befindet sich eine weitläufige Modeabteilung inklusive Schuhfeldern. Dort schlendern ausgeruhte Frauen umher, während ihre Männer auf den wenigen Sitzgelegenheiten vor Erschöpfung zusammen sacken. Ich war Zeuge, als ein bedauernswerter Mann wie betäubt in die Knie ging, glasigen Blicks nach Hilfe suchte, während seine Freundin voller Entzücken auf ein rotes Paar Schuhe zusteuerte.
Gemeinsam mit zwei anderen Männern flößten wir dem Ermatteten Wasser ein, kühlten mit Eiswürfeln seinen Nacken und seine Füße und hofften, dass keine Mund-zu-Mund-Beatmung notwendig sein würde. Nach etwa 20 Minuten kam seine Freundin mit den neuen roten Schuhen und beugte sich über ihn.
„Und ihr wollt ein starkes Geschlecht sein?“, fragte sie uns, zog den langsam zu sich Kommenden in die Höhe und entschwand mit den Worten: „Da vorne habe ich ein tolles Kleid gesehen. Das zeige ich dir noch, dann darfst du wieder fernsehen.“
„Der Arme“, flüsterte mein rothaariger Nachbar. „Er ist massiv dehydriert. Wahrscheinlich hat er vor Stunden sein letztes Bier bekommen. – Entschuldigt, ich muss weiter.“
Von ferne winkte ein hübsches, rotblondes Mädchen mit einer Schuhschachtel. Auch der zweite Mann, ein oberflächlich muskulöser Mann, entfernte sich eilends, als ein zierliches Geschöpf ihm zulächelte.
„Mach’s gut“, das waren seine letzten Worte. „Du scheinst wirklich Glück zu haben.“
Ich nickte und wankte auf ein Sofa zu, das für Männer hier aufgestellt ist. Nach etwa zwei Stunden gelösten Dämmerns entschied ich mich für einen letzten Rundgang. Ich wankte durch tausende Quadratkilometer Gourmetware im sechsten Stock, ich blätterte durch Millionen Kalender für das kommende Jahrtausend und starrte belämmert auf Milliarden von Stoffen, Getränken, Zigarren, Zigaretten und ich weiß nicht was.
Im Erdgeschoß lauerte die letzte Falle: das Parfumparadies. Hier waren die Menschen, vor allem die männlichen, am Ende ihrer Kräfte. Frauen aber jubelten glücklich über neue Düfte und Haarspangen.
Dort traf ich wieder den jungen, rothaarigen Mann. Er näherte sich nun seinem 60. Geburtstag. Schweißgebadet, mit Ringen unter den Augen und gebeugtem Rücken folgte er seiner Freundin, die kräftigen Schritts von Stand zu Stand eilte, Haarreifen um Haarreifen probierte und sich von anderen Frauen in viel geschlitzten Kleidern Duft um Duft auftragen ließ.
Verzweifelt blickte er mich an. Ich gab ihm einen Schluck Mineralwasser mit viel Salz zu trinken und reichte ihm mein großes Badetuch, mit dem er sich abtrocknete.
„Danke“, seufzte er. „Wie hast du das bloß gemacht, dass deine Freundin dich so gemütlich und allein durch das KaDeWe gehen lässt?“
„Tja“, ich musste schlucken.
„Ehrlich gesagt kommt sie erst nächste Woche nach Berlin. Ich übe schon mal, damit ich sie nicht enttäusche.“