Natürlich nicht allen, es gibt viele, denen es besser gehen soll.
Die Aussage bezieht sich auf jenen Teil der – meist im industriellen Westen lebenden – Menschheit, der nicht mehr weiß, was gut ist, geschweige denn, wie es unseren Kindern noch besser gehen soll.
Im Supermarkt
Es ist schwer, an der Quälstation vor der Kassa, auch Qengelstation oder neumodisch Pester Power genannt, vorbeizukommen. Dort liegen, auf Augenhöhe von Kindern, kleine Drogen wie Kaugummi, Zuckerln (= Bonbons) oder neuerdings flüssige Winzigbehälter mit Limonaden. Alles als irgendwie gesund beschrieben, weil mit überflüssigen Vitaminzugaben versetzt.
Für Erwachsene gibt es Gutscheine aller Art und alkoholische Pralinen. Ein Vorbeikommen ohne Zulangen ist schwer, besonders mit Kindern.
Als meine #ALT (=AllerLiebsteTochter) so um die drei Jahre alt war – ist schon eine Zeit her –, kam ich um damalige Zuckerbomben wie „Dreh und trink“ nur mit großen Komplikationen herum. Es bedurfte großer Geschicklichkeit, Regale mit süßen Dingen für die süßen Kleinen großräumig zu umfahren und am Ende stand ich doch vor der großen Hürde: der Quälstation.
Eine Kassa ohne Wartende zu finden war meistens unmöglich, ich musste daher meine #ALT irgendwie ablenken. Ich redete auf sie ein, erzählte zusammenhanglos Geschichten und manchmal griff ich zu meinem stärksten Mittel: Ich sang ein Lied. Das erfreute sie so sehr, dass sie sogar auf „Dreh und trink“ vergaß.
Meistens half das, aber irgendwie ging mir die Erziehung durch plumpe Ablenkungsmanöver auf die Nerven. Ich beschloss, konsequent zu sein – nicht gerade das, was meiner allgemeinen Persönlichkeitsstruktur entspricht.
Ist eh nicht teuer!
Meine #ALT staunte nicht schlecht, als wir beim nächsten Einkauf gemütlich durch den Supermarkt spazierten. Sie brachte strahlend immer neue Dinge, die sie in den Einkaufswagen warf: Süßigkeiten, Puppen, Bälle, alles, was sie bereits hatte, niemals brauchen würde oder gesundheitsschädlich war. Ich nahm die Gegenstände geduldig aus dem Einkaufswagen, erklärte ihr, warum wir sie nicht kaufen werden und legte sie in die Regale zurück.
Was Eltern ganz früh lernen müssen: Kinder sind konsequent, zielorientiert und werden nicht müde. Als Rücken und Beine zu schmerzen begannen, nahm ich alle Kraft zusammen, beendete das unwürdige Schauspiel und schritt mit dem Einkaufswagen zur Kassa. Meine Tochter warf sich daraufhin auf den Boden und brüllte in einer Lautstärke, die an den kleinwüchsigen Trommler Oskar Matzerath aus der Blechtrommel erinnerte.
Noch barsten keine Fensterscheiben, nur die vorwurfsvollen Blicke diverser Mütter häuften sich. Es dauerte nicht lange, da beugte sich eine vornehme Dame zu meinem Kind und fragte nach seinen Wünschen. Mein Kind antwortete mit einer Steigerung von etwa zehn Dezibel und erreichte damit das Geräusch einer Kreissäge. Ein Gehörschutz ist bei dieser Lautstärke vorgeschrieben, zumindest für Arbeiterinnen und Arbeiter, Eltern sind derzeit davon ausgenommen.
Nun kam die damals unvermeidliche Frage:
„Wo ist denn deine Mama?“
Meine #ALT (= AllerLautesteTochter) deutete auf mich, den Vater, was sofort ein Kopfschütteln bei der Dame auslöste.
„Möchtest ein Zucki?“, fragte sie mein Kind, denn wir befanden uns in der Hauptstadt Kakaniens, wo alles Kleine noch weiter verkleinert wird.
Bevor die gute Frau meine Erziehung kaputtmachen konnte, stürzte ich zu den beiden.
„Ich kaufe dem armen Mädchen gerne was Süßes. Ist eh nicht so teuer“, empfing mich die besorgte Frau.
„Meine Tochter möchte jederzeit ein Zucki. Und weil sie kein Rindvieh werden soll, das ständig mit Zuckis gemästet werden muss, verbiete ich ihr diesen Dreck.“
Der Gang zur Kassa war etwa unangenehm, aber ich ertrug die vorwurfsvollen Blicke der anstehenden Menschen tapfer. Meine Tochter schwieg, was ich ihr als Zeichen frühkindlicher Solidarität hoch anrechnete. Noch dazu waren die späteren Einkäufe in Supermärkten einfacher. Meine #ALT (= AllerLiebsteTochter) verhielt sich nach diesem Erlebnis vorbildlich – zumindest im Supermarkt.
Reich, aber arm
Wenn ich den heutigen Waren-Tsunami an sinnlosen Dingen betrachte, die permanent unsere Kinder überschwemmen, erscheint mir das damalige Angebot in der Quälstation nahezu als Mangelwirtschaft.
Glücklich und fröhlich sehen allerdings weder Eltern noch Kinder in dieser materiell reichen Gesellschaft aus. Darum bin ich dafür, dass es unseren Kindern einmal materiell schlechter gehen soll.
Damit sie nicht von kommunikationsseligen Eltern geschaukelt werden, die permanent auf ihr Handy schauen oder von fitnessgestressten in windschlüpfrigen Kinderwagen durch Alleen befördert werden.
Damit sie nicht mit chinesischen Kindermädchen konfrontiert werden, die ihnen die Sprache der wirtschaftlichen Zukunft beibringen sollen oder stundenlang vor Computern sitzen, um Comicfiguren zu erschießen.
Damit stattdessen mit ihnen gespielt und gesprochen wird; damit die Erwachsenen Zeit für sie haben; damit kleine und große Menschen Freude aneinander haben.
Ich fürchte allerdings, diese Vorstellung ergibt kein Wirtschaftswachstum.
Und das geht gar nicht!