Vom Lügen

Was soll ich meiner Familie sagen?

Die informative Website der Deutschen Leukämie und Lymphom-Hilfe hat ein Informationsblatt erstellt, wie man schlechte Nachrichten der Familie überbringen kann.

Ich habe das so gemacht:

 

Auszug aus dem Manuskript
„Heute gibt’s Tomatensuppe“

Nach der Starre hat sich ein neuer Alltag eingestellt. Den behalten wir bei, zumindest in Umrissen. Einkaufen. Kochen. Essen.

Bisweilen gibt es wichtige Dinge zu erledigen. Etwa weiterhin zu lügen. Ich wurde vor ja vor einigen Wochen Großvater und hatte mich so sehr auf mein Enkelkind gefreut. Meine Tochter Nina hat vor Jahren einen liebenswerten Freund gefunden. Die neue Wohnung ist bezogen. Die Gegend in Liesing ist eine Mischung aus Dorf, Bauernhöfen und U1-Anschluss.

Alles passt.

Nur die Leukämie nicht.

Noch bevor das Kind auf die Welt gekommen war, musste ich beginnen zu lügen. Ich wollte sie nicht aufregen. Dabei hasse ich Lügen. Genauer: Ich lüge nicht gern. Das hat viele Gründe. Einer davon ist die Unübersichtlichkeit des Lügens. Man muss ein sehr gutes Gedächtnis haben, um wahrhaft lügen zu können. Überall lauern Gefahren. Kleinigkeiten werden zu Bärenfallen, in die man tief fällt.

Jedenfalls musste ich dieses Mal perfekt lügen. Meine Tochter Nina konnte ich frühestens nach der Geburt über meine Krankheit informieren. Es ist nämlich so, dass ich lange Zeit Alleinerzieher meiner Tochter war, wir stehen uns nahe, wie es so schön heißt. Manchmal in erbittertem Kampf, in späteren, erwachsenen Jahren in überwiegend liebevoller Zuneigung. Meine Freude über ihr Kind hat sie zu Tränen gerührt.

Nina und Dave überbrachten die Botschaft sehr kreativ. Sie schenkten uns eine Flasche Wein mit einem netten Etikett darauf: ‚Eriksdotterson JG 2019‘ stand darauf und war so echt gestaltet, dass wir uns nichts dabei dachten, sondern uns laut über den Zufall wunderten, dass es einen solchen Wein gab. Die beiden tauschten hilflose Blicke aus, Klaudia und ich ebenfalls.

„Und? Irgendwas unklar?“

„Nein. Alles klar. Ein Wein, der unsere Namen trägt. Witzig!“

Nina seufzte und holte ein anderes Etikett hervor. Ein Ultraschallbild war darauf, das neue Leben, ein winziger Embryo.

„Wir wollten es nicht verwenden, weil es zu eindeutig ist.“

Das war im Sommer gewesen. Jetzt ist jedenfalls nicht die Zeit, schlechte Nachrichten zu verbreiten. Die Strategie ist einfach. Wichtig ist, die beiden nicht zu sehen. Am Telefon kann ich recht gut lügen, bei Blickkontakt habe ich Probleme. Also erfinde ich kleine Irritationen meines Körpers, die mich am Besuch hindern. Innsbruck und Wien liegen weit auseinander, da kann ein Besuch auch nicht mir nix, dir nix stattfinden. Ich berichte also von diversen Kieferentzündungen, die der Wahrheit ziemlich nahe kommen.

Ein wichtiger Hinweis für Lügende: Kombinieren Sie immer Wahrheiten mit Lügen. Dann können Sie sich an den Wahrheiten festhalten, die vergisst man weniger leicht als die Lügen. So erinnern Sie sich auch besser an Ihre Lügen und geraten nicht in Gefahr, Dinge miteinander zu verwechseln. Außerdem wird Ihre Erzählung durch den Wahrheitsgehalt innerhalb der Lüge immer etwas anders klingen, für die Wissenschaft ein Hinweis auf die Wahrheit. Lügner haben das Problem, dass sie ein Geschehen immer gleich erzählen, nahezu wortwörtlich gleich, was den Wahrheitsliebenden, etwa Staatsanwälten, ein Hinweis auf eine Lüge ist.

So telefoniere ich über mehrere Wochen mit meiner Tochter, befrage sie intensiv über ihr Leben und ihre Sorgen – auch ein wichtiger Tipp für einigermaßen funktionierendes Lügen: immer fragen! Nichts erfreut die Menschen mehr, als wenn man sich für sie interessiert.

Sie antwortet brav und irgendwie bringen wir die Zeit bis zur Geburt hin. Die erfolgt allerdings um acht Wochen zu früh, was zum nächsten Problem führt. Weihnachten!

Die ersten Weihnachten mit dem gemeinsamen Kind soll man nicht stören. Selbst wer, wie ich, weder an ein Christkind noch gar an einen lieben Gott glaubt, findet diese Tage irgendwie anheimelnd, zumindest abseits der Einkaufsstraßen. Dort finden sich Orte, die ein wenig von dem haben, was andernorts fehlt: Friede und Ruhe.

Wer will, widmet sich dem Backen von Vanillekipferln. Ihr Geruch erinnert mich an meine Kindheit. Weihnachten und Vanillekipferln, das harmoniert wie Sachertorte und Marmelade.

Ach ja, Weihnachten und andere Illusionen!

Ich erfinde also am Telefon weitere Ereignisse, die uns am Besuch hindern. Meine Tochter schickt mir Fotos von meinem Enkelkind und ist ganz verständnisvoll. Später wird sie mir sagen, dass ihr das Ganze seltsam vorgekommen sei, sie aber nicht nachfragen wollte.

Wie auch immer, wir schaffen es, uns erst nach den Weihnachtsfeiertagen zu sehen. Klaudia fragt mich, wie wir es den beiden sagen sollen. Ich sage, dass ich so etwas nicht planen kann. Ich werde es schon hinkriegen.

Luna ist noch so klein, dass ich sie gar nicht in den Arm nehmen will. So ein winziges Leben! Und kann schon so laut schreien. Wir reden über dies und das, wir trinken Café und essen eine Mehlspeise, eine Maronitorte, Ninas Lieblingsspeise. Die Pause ist günstig.

„Ich muss euch etwas mitteilen“, sage ich. Mitteilen, das Wort klingt unangenehm. Ich verwende es üblicherweise nicht, aber ich finde kein passendes. Die Wörter werden steif wie mein Körper. Ich räuspere mich.

„Es ist nichts Angenehmes und ich wollte es euch nicht vor Weihnachten sagen. Ich habe im Oktober eine schlechte Diagnose bekommen. Aber es gibt auch gute Nachrichten.“ Nur keine Panik aufkommen lassen. Alles ruhig und sachlich erklären. So wenig Emotion wie möglich aufkommen lassen. Ich bin ganz rational.

Nina streichelt Luna, ihr Dave sieht mich an. Es wird sehr ruhig im Zimmer. Dabei habe ich noch gar nichts gesagt. Seltsam, wie sich Informationen auch ohne Worte verbreiten. Eine merkwürdige Schwere ist da. Ich will es schnell machen. Schmerzlos. Schmerzlos?

„Ich habe Leukämie. Das ist die schlechte Nachricht. Aber sie ist heilbar. Das ist die gute Nachricht.“ Ich stoße den letzten Satz heraus wie einen Rettungsring.

Ninas Augen sind weit geöffnet. Sie füllen sich mit Wasser. Nina streichelt Luna über den Kopf. Die Zeit erstarrt. Der Tod ist heute Gast. Er bringt alle zum Schweigen. Wie lange das dauert. Diese Stille. Wie eine Ewigkeit. Dave unterbricht sie, steht auf, kommt zu mir, umarmt mich, sagt nichts, geht zu Klaudia und umarmt sie ebenfalls. Nina rührt sich nicht.

Das ist der Moment, in dem wir alle zu weinen beginnen und Klaudia die vorbereiteten Taschentücher verteilt.

Nina übergibt Dave ihr Kind, kommt zu mir, umarmt mich. Sie sagt nichts. Was soll sie auch? Es ist Winter und der Frühling in unerreichbare Ferne gerückt.

Es ist seltsam, wenn das eigene Kind plötzlich eine erwachsene Frau geworden ist. Eben habe ich sie noch auf den Schultern getragen, Windeln gewechselt. Habe mich an ihrer Lebendigkeit erfreut, mich über ihre Sturheit geärgert.

„Was willst du denn?“, hatte ich sie gefragt, als sie wieder einmal ein Angebot für den Nachmittag abgelehnt hatte. Sie hatte geschluchzt und nach einer Pause:

„Ich will, ich will“, hatte sie geweint, „ich weiß nicht, was ich will.“

Ich schon. Ich will nicht sterben. Das ist ein einfacher Wunsch in meiner Situation. Vielleicht unerfüllbar.

Ich weiß nicht mehr, wie wir den Rest des Tages verbracht haben. Die Maronitorte wurde nicht mehr angetastet. Wahrscheinlich berichteten wir darüber, wie die Krankheit entdeckt wurde, fluchten über den Hausarzt, der die Befunde verschlampt hatte, erklärten die weitere Therapie und versuchten die Chancen und großartigen Wahrscheinlichkeiten zu schildern, gesund zu werden.

Es tut gut, nicht mehr lügen zu müssen.