Eigentlich wollte ich heute einige Fotos von Wahlplakaten zeigen, dann habe ich ein Interview in der Wiener Zeitung gelesen:
Rudolf Burger äußert sich dort zum Thema „Flüchtlinge“. Es sind zu viele. Und zu viele Männer außerdem.
Philosophie heißt übersetzt ja „Liebe zur Weisheit“ und Rudolf Burger gilt als einer ihrer wichtigsten (österreichischen) Vertreter. Nach der Lektüre glaube ich das nicht mehr.
Nachdem er den syrischen Krieg mit dem spanischen Bürgerkrieg des vorigen Jahrhunderts verglichen hat, fällt ihm — „ganz naiv“, wie er sagt — Folgendes auf:
„Warum kommen die hunderttausenden jungen Männer zu uns? Warum bleiben sie nicht und verteidigen ihre Heimat?“
Schließlich wimmele es in Syrien von Waffen und die Zahl der Kämpfer des IS „sei überschaubar“.
Wir hätten gerne ein paar Panzer
Und ein paar Abfangjäger samt Ausbildung zum Jagdbomber gibt es sicher auch zum Schnäppchenpreis. So ungefähr stellt sich der Herr Philosoph wohl die Lage in Syrien vor. Vielleicht hat er schon ein paar Fotos syrischer Städte gesehen?
Kann man googeln und wenn nicht alle gefälscht sind, dann sind dort kaum Waffengeschäfte zu finden, in denen junge Syrer einkaufen gehen, um — ja, was überhaupt? Ihre Heimat zu verteidigen? Ein Land, in dem es keinen Staat mehr gibt? Sich auf die Seite der guten Demokraten zu schlagen, die von — ja, welcher Armee überhaupt vertreten wird?
Der Bürgerkrieg in Spanien dauerte etwas weniger als drei Jahre und die Waffen waren noch ziemlich „unterentwickelt“, wenn man sie mit den mörderischen Möglichkeiten von heute vergleicht. (Stichwort Streubomben)
Außerdem gab es für die demokratischen Kräfte in den 1930er Jahren immerhin noch ein wenig Unterstützung von demokratischer Seite. Am Ende siegten die Faschisten und der spanische Diktator Franco starb 1975 friedlich in Madrid. Dass er gegen eine demokratisch gewählte Regierung mit Waffengewalt geputscht hatte, war bis zu seinem Tod kaum ein Thema in Europa.
In Syrien tobt seit 2011 ein Krieg. Was als „Arabischer Frühling“ begann und zu einer Demokratisierung des Landes führen sollte, ist längst zu einem Krieg von unterschiedlichen Terrorgruppen geworden.
So viele junge Männer!
Wenn also ein Philosoph „ganz naiv“ fragt, warum denn so viele junge Männer flüchten, dann kann er zum Beispiel einen Artikel im Spiegel lesen.
Dort stehen ein paar Antworten, etwa dass die Männer „vorgeschickt“ werden, weil sie die gefährliche Reise eher lebend überstehen als Frauen. Denn, was Herr Burger vielleicht nicht weiß, es kommen ziemlich viele Flüchtlinge auf ihrer „Reise“ nach Europa um.
Die Familienmitglieder hoffen, dass einige es schaffen und sie dann legal nachkommen können. Ohne die Gefahr, etwa in Flüchtlingslagern vergewaltigt zu werden — die ist laut UNHCR sehr groß.
Wenn dem Philosophen der Spiegel zu „links“ ist, kann er auch in der Kleinen Zeitung etwas über die Gründe nachlesen, warum so viele der Flüchtlinge Männer sind. Hier der Link-Tipp.
Die Zivilgesellschaft jubelte Hitler zu
Ein unangenehmer Verdacht keimt beim genauen Lesen auf: Benutzt hier ein „Liebhaber der Weisheit“, ein Philosoph, seinen Namen — laut Wiener Zeitung gilt Rudolf Burger als „einer der renommiertesten Philosophen Österreichs“, ohweh! — für menschenfeindliche Attacken?
„Völlig nutzlos sind Zäune nicht, immerhin wurden die ganze Geschichte hindurch Mauern aufgebaut.“
Leider noch keine gegen die Dummheit, wie anzumerken ist.
Übrigens gab es auch immer Kriege und Mord und Totschlag. Das ist allerdings auch kein überzeugendes Argument für die Fortsetzung dieses Zustandes, weil alle diese Methoden bisher kein einziges Problem gelöst haben.
Rudolf Burger ist aber nicht nur mit Zäunen einverstanden, sondern ihm ist auch die Zivilgesellschaft verdächtig.
„Diejenigen, die am 15. März 1938 am Heldenplatz gejubelt haben, waren auch die Zivilgesellschaft, und die diversen Dschihadisten-Organisationen sind es par excellence.“
Übrigens ist Kim Jong-un Leiter eines gemeinnützigen Vereins namens Nord-Korea, der Terroranschlag 2001 in New York ein Werk der CIA und Putin ein lupenreiner Demokrat.
Nur dass die Erde eine Scheibe ist, das glaubt selbst Rudolf Burger nicht. Hoffentlich.
Philosoph stürzt Gaddafi!
Allerdings geht der Sturz des libyschen Diktators Gaddafi auf einen französischen (also linken) Intellektuellen zurück. Dadurch wurde der Westen destabilisiert und das war der Beginn allen Elends!
„Die Destabilisierung durch den Westen stand am Anfang (für das Chaos in Nahost, Anm. d. A.). Ich erinnere daran, wie mit Bernhard-Henri Lévy einer der französischen Starintellektuellen zum Sturz des libyschen Diktators Gaddafi aufgerufen hat. … Jetzt sind Afrikas Grenzen nach Norden, nach Europa offen.“
Kaum hatte der Philosoph zum Sturz aufgerufen, schon brach im Norden Afrikas die Revolution aus, mit allen für Europa negativen Folgen!
So stellt sich Rudolf Burger also die Welt vor?
Ich weiß es nicht.
Genausowenig wie ich weiß, warum ein solches Interview in der Wiener Zeitung stehen muss.
Aber in einem Leserbrief finde ich folgende Zeilen:
„Einen herzlichen Gruß und Dank für Rudolf Burger wegen seiner berechtigten Kritik an den jungen Syrern, die ihr Land nicht verteidigen wollen, und vor allem an der durchsichtigen Verherrlichung der ‚Zivilgesellschaft‘, die auch 1938 Hitler zujubelte.“
Merke, liebe Zivilgesellschaft:
Erstens gibt es dich nicht. Und zweitens bist du von Menschen, die Hitler zujubelten, nicht zu unterscheiden.
Ich unterstelle Rudolf Burger nicht, dass er ein Nazi oder FPÖ-Anhänger ist. Was mich zuerst erstaunte und – beim genauen Lesen des Interviews – dann auch ärgerte, ist das Ãœbernehmen populistischer Parolen. Eine lautet ja: Wieso sind so viele junge Männer geflüchtet? Die sollen ihre Heimat verteidigen. Und wie? Sich einer gut ausgerüsteten Armee anschließen? Welche wäre das denn?
Dann noch der Vergleich mit dem spanischen Bürgerkrieg und die Zivilgesellschaft, die 1938 Hitler zujubelte.
Geht’s noch?
Wenn Philosophie und Soziologie ein Problem mit der Definition der Zivilgesellschaft (wurde im Interview so erwähnt) haben, dann sollen sie es lösen.
Aber den Heldenplatz 1938 mit dem Westbahnhof Wien 2015 zu vergleichen – tut mir Leid, das halte ich für höchst irreführende Argumente.
Ich glaube, so einfach sollte man es sich nicht machen. Ich schätze den Philosophen Rudolf Burger als einen sehr klugen und auch unbequemen Denker. Und man muss auch kein Nazi oder FPÖ-Anhänger sein, um auch mal auf die Gefahren eines unbegrenzten Zuzugs von Flüchtlingen, wie er derzeit in Mitteleuropa vonstatten geht, hinzuweisen. Dass es dabei zu sozialen Verwerfungen und Konflikten kommt, müsste eigentlich jedem / jeder klar sein, die auch nur ein bisschen eine Ahnung von gesellschaftlichen Zusammenhängen hat. Ein durch die Wirtschaftskrise schon hinlänglich belastetet Arbeitsmarkt, vor allem in den unteren Segmenten, ein nicht weniger belasteter Wohnungsmarkt, und nicht zuletzt auch eine Krise des herrschenden Parteiensystems lassen hier Schlimmes befürchten. Ein Ruck nach Rechts bei diversen Wahlen, wie er jetzt schon länger hierzuland ezu beobachten ist, jüngstes Beispiel Polen, wo eine rechtsnationale Parteil die absolute Mehrheit gewonnen hat, obwohl dort das Flüchtlingsproblem noch gar nicht so gravierend sein dürfte. Die Zunahme der Pegidaanhänger usw. So schlimm das Leid dieser Flüchtlinge ist, die Frage muss erlaubt sein: Können unsere Sozialsysteme diese Massenflucht schaffen, ohne auseinanderzubrechen, ohne neue soziale Konfliktfelder zu schaffen? Und wenn sie es nicht können, was zu vermuten ist, dann sollte die Politik auch dementsprechend handeln, und wenn sie das nicht tut,dann verliert sie das Vertrauen der Wählerin und des Wählers. Dann aber kommt kein Linksruck, dann kommt ein Rechtsruck, und wer dann dessen Opfer sein werden, sollte eigentlich jedem klar sein.