„Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau“ — so der Untertitel des Buches von Cordelia Fine, die humorvoll, verständlich und wissenschaftlich fundiert die Trennung der Welt in Frau und Mann ins Reich Absurdistan verlegt. Abgesehen von den bekannten (sexuellen!) Geschlechtsunterschieden tendieren die restlichen Unterschiede gegen Null. Genausogut, ätzt die Autorin, hätte man sich auf den Unterschied zwischen Rechts- und Linkshänder/innen konzentrieren können. Dann gäbe es heute wahrscheinlich statt einer „feministischen Forschung“ eine „linkshändische Forschung“.
Weil Menschen aus Sicherheitsgründen aber gerne an bestehenden Mythen festhalten, können Frauen zwar nicht einparken, aber sie sind „multitask-fähig“. Männer können nicht zuhören, aber sie sind zielorientiert und naturwissenschaftlich begabt. Die Gehirne von Frauen und Männern arbeiten nämlich von Natur aus unterschiedlich, darum gibt es rätselhafte „weibliche Gehirne“ und auch „männliche“. Das meinen zumindest die Verfasser verschiedener Bestseller, die grassierende Vorurteile „wissenschaftlich“ untermauern wollen.
Mich erinnerten solche Aussagen schon immer an eine Art „geschlechtlichen Rassismus“, der sich nur wenig von den Versuchen unterschied, die Intelligenz eines Menschen durch die Größe seines Gehirns oder Messungen seines Kopfes zu erklären. Außerdem habe ich bei Durchsicht meiner Freunde und Freundinnen festgestellt, dass es keinen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Charakter gibt.
Ich fand Männer, die weich und Frauen, die hart waren. Ich fand konservative Frauen und progressive Männer. Ich fand balzende Männer und kokette Frauen. Und alle Eigenschaften ebenso beim jeweils anderen Geschlecht.
Einen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Charakter konnte ich nur in Wahrscheinlichkeiten feststellen. Ja, es gibt mehr Männer, die Karriere machen wollen und das zu ihrem Lebenssinn erheben. Aber da es ebenso Frauen gibt, klingt die Erklärung, das liege am sexuellen Geschlecht, doch sehr banal. Und da es auch Frauen gibt, die ihre Kinder (und Männer) verlassen, erscheint etwa auch das Wort „Mutterliebe“ als ziemlich plumpe Idealisierung der Wirklichkeit.
Die Zuordnung von sexuellem Geschlecht und sozialer Rolle im Verhältnis Eins zu Eins ist ein sprachlicher Irrtum mit unsinnigen gesellschaftlichen Folgen. Die Tatsache, dass Männer keine Kinder bekommen können, wirkt sich wenig auf das Verhalten aus. Mehr schon die Erziehung zum „echten Mann“ – und die wird überwiegend von Frauen betrieben. Auch ein biologisches Naturgesetz? Oder eine Ideologie?
Weil Frauen in irgendeiner Embryoentwicklung weniger Testosteron erhalten, sollen sie die Welt grundlegend anders sehen wie Männer? Dann kann die Menschheit genausogut in kurzsichtige und weitsichtige Menschen unterschieden werden, im physikalischen Sinn des Wortes. Schließlich haben auch sie eine unterschiedliche Entwicklung durchzumachen.
Cordelia Fine, glücklicherweise eine Frau und daher weniger verdächtig (übrigens ein Versuch, herrschende Vorurteile für eigene Zwecke auszunutzen), fasst in ihrem Buch „Die Geschlechterlüge“ auf 374 Seiten — Anmerkungen, Bibliographie und Verweise beinhalten weitere 100 Seiten, aber die muss man nicht unbedingt lesen — wissenschaftliche Erkenntnisse lesbar (!) zusammen, die sich gegen herrschende Mythen und Legenden richten.
Amüsant sind die historischen Verweise, über die herzlich gelacht werden kann. Etwa dieser:
„Die Wissenschaft der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Wirtschaftspolitik; die Ausübung der Regierungsgewalt … all diese und andere Studien, Betätigungen und Berufe, die hauptsächlich oder vollständig Männern zugeschrieben werden, setzen die Anstrengungen eines Geistes voraus, der mit der Fähigkeit genauen, umfassenden Denkens begabt ist…“
Klarerweise ist damit begabt der Mann, nicht die Frau. Denn Mann und Frau sind, man war auch vor 200 Jahren in gewissem Sinne tolerant, gleichwertig. Aber irgendwie doch anders.
„Das weibliche Gehirn ist vor allem auf Empathie angelegt. Das männliche Gehirn ist vor allem auf das Verständnis und die Errichtung von Systemen angelegt.“
So heißt es 200 Jahre später in dem Buch „The essential difference“ von Baron-Cohen. Die Aussagen unterscheiden sich inhaltlich kaum, aber nun ist das Thema neurobiologisch abgesichert.
Ist das so?
Cordelia Fine untersucht die Untersuchungen genauer und findet: Vieles hat sich im Denken nicht geändert, allerdings in der Wirklichkeit:
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass zu meinen Lebzeiten eine Frau Premierministerin sein wird.“
Margret Thatcher 1971, britische Premierministerin von 1979 bis 1990.
Heute ist Angela Merkel seit einigen Jahren Bundeskanzlerin von Deutschland und kein Mann würde ihr unterstellen, dass sie für diesen Posten ungeeignet ist. Hat sie einen „männlichen“ Charakter, bloß weil sie politisch erfolgreich ist? Ist sie also ein verkleideter Mann?
In Zeitungen wird dieses Muster gerne verwendet. Kein Wunder, dass es ein Aufheulen im Blätterwald des Boulevards gab, als die Bundeskanzlerin ein Kleid trug. Noch dazu mit einem Ausschnitt, der in einem anderen Zusammenhang Bewunderung erregt hätte. Politik ist ein „männliches“ Geschäft, darum tritt Angela Merkel meistens in Hosenanzügen an. Allerdings wird männlich hier als Begriff verwendet, der nichts mit dem (sexuellen) Geschlecht zu tun hat. Mann = Macht. Aber nicht alle Männer haben sie. Die Macht.
„Wenn eine Frau jedoch einen nicht von der Tradition gedeckten Status und mehr Macht anstrebt, riskiert sie, den feindseligen Sexismus zu aktivieren, der „šFrauen als Gegner in einem Machtkampf begreift’. Feindselige Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz geschieht absichtlich und bewusst.“
Ist das vielleicht die gleiche Art von Diskriminierung, die einstens die Handwerker, die Bürger und danach die „Proletarier“ von „den Oberen“ zu spüren bekamen? Machthaber wollen ihre Macht selten teilen, auch wenn sie Machthaberinnen sind: Das ist ein soziales Problem, keines der sexuellen Geschlechter. Die sind in ihrem sozialen Verhalten weit weniger vom biologischen Geschlecht bestimmt als allgemein angenommen: Männer können Mütter sein und Frauen Väter.
„Unsere Hormone reagieren auf das Leben, das wir führen, was die unzulässige Trennwand zwischen innerer Biologie und äußeren Lebensumständen zum Einsturz bringt. Es kann daher kaum überraschen, dass sich während der Schwangerschaft nicht nur die Hormone der Mutter, sondern auch diejenigen des Vaters verändern.
…
Wenn das noch nicht überzeugend genug ist, dann schauen Sie sich das Verhalten von Ratten an. … Normalerweise beteiligen sie (männliche Ratten, Anm. des Autors) sich nie an der Brutpflege. Wenn man jedoch eine neugeborene Ratte mit einem ausgewachsenen Rattenmännchen in einen Käfig steckt, wird sich Letzteres nach wenigen Tagen um das Junge kümmern, als ob es die Mutter wäre. Das Rattenmännchen nimmt das Junge auf, zieht es sanft an sich, wie es auch eine säugende Mutter zun würde, sorgt dafür, dass das Junge sauber und zufrieden ist und baut sogar ein gemütliches Nest.“
Auch wenn Menschen keine Ratten sind, das schaffen wir locker, sonst könnte es keine alleinerziehenden Männer geben. Ihr Anteil ist nicht groß, aber bekanntlich reicht bereits das Vorhandensein eines einzigen weißen Raben, um den Satz „Alle Raben sind schwarz“ zu widerlegen. Und ich kenne bereits mehr als einen Alleinerzieher.
In diesem Sinn: Jetzt müssen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse bloß noch so schnell verbreiten wie die Vorurteile und Legenden! Dummerweise passen sie nicht so gut in unser Gesellschaftssystem wie die Vorurteile, wie unterschiedlich „Mann“ und „Frau“ doch sind. Und daher beruht die Hoffnung auf Überwindung auf den Sätzen von Sigmund Freud:
„Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf.“
Das Buch
Fine, Cordelia, Die Geschlechterlüge, aus dem Englischen von Susanne Held, 2012, Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-94735-9
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