Problemfall Mensch

Problemfall Mensch

Mir ist heute so philosophisch zumute. Der Philosoph — und natürlich auch die Philosophin — liebt bekanntlich die Wahrheit, so zumindest die wörtliche
Übersetzung. In diesem Sinn können alle Menschen Philosophen sein. Leider ist die Wahrheit oft unangenehm, siehe Kassandra. Sie ahnte die Zukunft und warnte ihre Mitmenschen. Das bekam ihr schlecht, sie wurde von einer Rivalin erdolcht. Woraus zu lernen ist, dass die Wahrheit eine gefährliche Sache und deshalb nicht sehr beliebt ist.

Wer sie ausspricht, wird beispielsweise gerne als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet. Vor kurzem hat unser geliebter Landesvater diesen Ausdruck verwendet und da ist mir der Witz eingefallen, den der Kabarettist Gerhard Bronner angeblich gerne erzählte:
Ein Mann kommt in ein Hotelzimmer und — pardon — scheißt dort einfach hin. Er geht hinaus, ein zweiter kommt und sagt: „Hier stinkt es.“ Dieser Mann ist dann der Nestbeschmutzer, nicht der Verursacher, und bekommt den Unmut anderer zu spüren.

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, hat eine berühmte österreichische Schriftstellerin geschrieben. Sie hat vergessen hinzuzufügen, dass der Mensch sie selten hören will. Wir wollen nicht wissen, dass Rohstoffe wie Wasser und Erdöl nicht in unendlichen Mengen vorhanden sind oder dass der westliche Warenüberfluss auf Toten in Bangladesh beruht.

Menschen veranstalten lieber mit immer besseren Totschlagsgeräten Kriege im Namen eines Gottes, eines Vaterlandes oder schlicht für Erdöl. Sie führen Prozesse, weil der Nachbar einen zu großen Zaun hat. Sie dröhnen, eingehüllt in Blechhüllen, durch die Gegend und erhöhen den Lärmpegel durch riesige Lautsprecheranlagen. Sie bringen ihre Frauen, Männer und Kinder um, wenn sie ein Eigenleben entwickeln. Und wenn ihnen gar nichts mehr einfällt, springen sie aus vielen Kilometern Höhe in die Tiefe und verschleudern dafür im Namen eines „Energiedrinks“ so viel Geld, dass Hunderttausende, wenn nicht Millionen Hungernde davon ernährt werden könnten.

In Wahrheit stimmt die Wahrheit einen nicht sehr fröhlich. Während viele Jugendliche arbeitslos sind, verdienen einige wenige Gleichaltrige Millionen Euro — wenn sie erfolgreiche Sportler sind wie ein gewisser Mario Götze. Oder erfolgreiche Programmierer wie der 26-jährige David Karp, der Erfinder von Tumblr, der sein Unternehmen um angebliche 1,1 Milliarden Dollar an Yahoo verkaufte.

Er ist eben für seine tolle Idee und seinen Arbeitseinsatz belohnt worden, meinen Anhänger der so genannten „freien Marktwirtschaft“ und halten Kritiker für Neider. Aber ist solcher Lohn gerecht?

Machen wir eine Schätzung. David Karp hat seit seinem 16. Lebensjahr wie ein Irrer für diesen Erfolg gearbeitet, sagen wir 80 Stunden die Woche. Er hat keinen Urlaub gemacht, keine Party besucht — was wohl nicht stimmt, aber wir wollen großzügig sein. 52 Wochen im Jahr zu 80 Stunden ergibt 4.160 Stunden im Jahr. Das Ganze mal 10 Jahre sind 41.600 Stunden Arbeit.

1,1 Milliarden Dollar Verkaufspreis dividiert durch 41.600 Stunden ergibt einen Stundenlohn von 26.442 Dollar.

Der Kollektivvertrag für Frisöre sieht einen Stundenlohn von etwa 10 Euro vor. Mit anderen Worten: Eine Frisörin müsste etwa 66 Wochen, mehr als 1 Jahr — ohne Urlaub natürlich — arbeiten, um auf den Stundenlohn von David Karp zu kommen.

Noch einfacher gesagt: 1 Stunde Arbeit von David Karp = 1,25 Jahre Arbeit einer Frisörin. Anders gerechnet: Sie müsste etwa 53.000 Jahre arbeiten, um den Verkaufspreis von Tumblr zu verdienen. So alt werden nicht einmal Schildkröten.

Eine ökonomische Wahrheit, die schwer verdaulich ist, kein Wunder, dass kaum jemand sie hören will. Und weil ich nicht wie Kassandra enden will, bitte ich alle Leserinnen und Leser, diese Wahrheit zu vergessen.
Danke!