Vom Glück – und der Höttinger Gasse

2013-11-20_kakanien_glueck

Die hohe Literatur der Menschheit ist ja geprägt von Morden, Vergewaltigungen, Trennungen, Innzucht und
vielen weiteren Möglichkeiten des Unglücks. Viel seltener steht darin etwas von Glück.

Glück gibt für die Literatur nicht viel her, es existiert nahezu ausschließlich in Werbespots für Schokolade oder Geschirrspülreiniger und in diversen „Ratgebern“.

Google etwa bietet mir bei der Suche nach „Glück Anleitungen“ immerhin 1,4 Millionen Einträge an, von „Buddhas Anleitung zum Glücklichsein“ — ich wusste gar nicht, dass der Mann auch Schriftsteller war! — über „Werde ein Meister des Glücks“ gibt es alles, was nichts nützt.

In der seriösen Literatur, wie Reich-Ranicki und andere Literaturkritiker sie definier(t)en, herrscht dagegen ein ausgeprochener Mangel an Glück. Beispielhaft sei ein berühmtes Buch des Österreichers Paul Watzlawick erwähnt, die „Anleitung zum Unglücklichsein“, eine Sammlung von Kommunikationsfehlern, die unausweichlich unglücklich machen. Was aber macht glücklich? Darauf wusste der Mann keine Antwort! Und dafür haben wir ihn studieren lassen?

Friedrich Torberg hat im Buch „Die Tante Jolesch“ Glück definiert als weitgehende Abwesenheit von Unglück. Nicht beglückend, diese Aussage, aber immerhin eine Möglichkeit.

Was will uns der Autor dieser Zeilen sagen?
Und was hat das alles mit der Höttinger Gasse in Innsbruck zu tun?

Glück ist …

Ich will Sie nicht weiter auf die Folter spannen und darf mitteilen:
Ein Glück ist es, die Höttinger Gasse unverletzt zu begehen!

Das ist eine Gasse in Innsbruck, die so eng ist, dass Busse im Schneckentempo die erste Engstelle nehmen müssen. Einerseits bleiben links und rechts nur wenige Zentimeter, andererseits können auch Menschen mit Kinderwagen oder Rollstuhlfahrer sich auf der Straße bewegen. Auf den Gehsteig passt nämlich höchstens ein Mensch, der weniger als 60 Kilogramm hat und sich nicht bewegt.

Ist diese hohle Gasse durchfahren bzw. durchgangen, wartet der in Tirol übliche Berg. Steil geht es hinauf, Auspuffe qualmen, Fußgänger husten; vorbei an den Pius-Brüdern, den Zeugen Jehovas geht es bis hinauf zur katholischen Kirche, wo es ein glückliches Aufatmen gibt.

Seit vielen Jahrzehnten bemüht sich zwar eine Initiative, diese Glücksmöglichkeit zu entfernen, indem sie — natürlich vergeblich — auf die Gefahren dort hinweist und eine teilweise Schließung verlangt.

Ein Mal im Jahr wird den Bewohnerinnen und Bewohnern zuliebe die Gasse tatsächlich gesperrt, dann wird getanzt, gescherzt und gespielt. Ein Hauch von Glückseligkeit strömt durch Hötting, aber nur für kurze Zeit. Die restlichen 364 (beziehungsweise in Schaltjahren 365) Tage bleibt die Gefahr, von einem Auto oder einem Radfahrer (oder einer Radfahrerin selbstverständlich) überfahren oder mindestens gestreift zu werden.

Und das ist auch gut so!

Was wäre Glück ohne die Erfahrung von Unglück?
Was wäre ein Schlaraffenland ohne je gehungert zu haben?

Erst der Vergleich macht uns sicher! Deshalb zittern wir Bewohnerinnen und Bewohner von Hötting uns an 364 (beziehungsweise 365) Tagen mit Touristinnen und Touristen die Höttinger Gasse hinauf oder hinunter, hoffen, dass uns kein Fahrrad von hinten rammt und kein Auto, dass kein Bus oder LKW ums Eck biegt, wenn wir mit Kinderwagen oder im Rollstuhl unterwegs sind.

Und wissen, was Glück ist, wenn wir unten das Innufer erreichen oder oben die Höttinger Kirche!
Sie sehen: Es braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Die Höttinger Gasse ist eine regional verfügbare und nachhaltige Adresse dafür.

Sie müssen bloß aufpassen, dass Sie nicht überfahren werden. Obwohl, wenn Sie immer brav waren: Im Himmel soll es auch recht nett sein.