Literarische Kostproben – Ein schöner Tag

Ein schöner Tag

Ein schöner Tag

Mein neues Buch
Als mein Ich verschwand
ist fertig.

Erhältlich – auf Bestellung – in allen guten Buchhandlungen und bei mir.

Siehe www.kakanien.eu – hier die erste Seite der nächsten Geschichte.

 

 

Ein schöner Tag

Das Jahr 1961 war für Renate ein gutes Jahr. Nicht deshalb, weil Kennedy und Chruschtschow sich in ihrer Heimatstadt Wien trafen, sondern weil sie großjährig wurde. Das Wetter hatte sich ihrer Stimmung angepasst, die Sonne schien hell, selbst das graue Amtsgebäude strahlte nahezu.

Noch ist sie nicht dort. Es ist ein weiter Weg von ihrer Wohnung dorthin. Die öffentlichen Verkehrsmittel funktionieren noch nicht, aber sie geht ja gerne. Heute hat sie frei, sie denkt nicht gerne an ihre Arbeit als Kindergärtnerin. Man verheizt sie als Springerin, außerdem muss sie statt Kindern pubertierende Buben betreuen. Die 13- bis 14-jährigen behandeln sie abfällig, lachen sie aus. Sie ist nur wenig älter als ihre Schützlinge, vor denen eher sie geschützt werden sollte. Oft sitzt sie weinend in der Garderobe und fragt sich, wie das Leben weitergehen soll. Dann fasst sie wieder Mut und ist sicher, dass alles besser wird.

Als ihr Vater gestorben war, die Mutter schwer krank und der Krieg zu Ende, hatte das Jugendamt sie in die Schweiz geschickt. Mit einem Taferl um den Hals war sie dort angekommen, in einem Heim, das sich Kinderdorf nannte. Walter Corti, ein Schweizer, hatte es gegründet, das ‚Dorf für leidende Kinder‘. Es bestand aus einigen Häusern, jedes für eine bestimmte Nation. Renate war fünf Jahre alt und kam in den Kindergarten. Dort sprach man eine fremde Sprache, Französisch.

„Joue avec moi“ war der wichtigste Satz dort: „Spiel mit mir.“ Und sie spielte gerne, lernte die fremde und irgendwie laute Sprache.

Seltsam, dass alle per Du waren, auch die Kinder mit den Erwachsenen. Oder ist es seltsam, dass sie nun zu ihrem amtlichen Vormund geht, mit dem sie per Sie ist?

Wie schön das damals war! In der Volksschule wurde sie von ihren österreichischen Hauseltern unterrichtet, danach von einem Schweizer Lehrer. Am Beginn des Tages las er ein Gedicht vor, im Herbst etwa dieses.

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.