Praxis trifft Theorie

Lernforschung und Lehrpraxis

Die geborene Lehrerin ist eine Fata Morgana. Genauso wie der geborene Lehrer. Dennoch entzieht sich der konkrete Unterricht weitgehend

den Erkenntnissen der Wissenschaft. Das Buch „Lernwirksam unterrichten“ versucht diese Lücke zu füllen. Das gelingt auf spannende und lesenswerte Weise. Eine Literaturempfehlung für den Urlaub. Nicht nur für Lehrerinnen und Lehrer, sondern für alle an Bildung Interessierte.

Elsbeth Stern ist Bildungsforscherin und hat seit 2006 einen Lehrstuhl für „Lehr- und Lernforschung“ an der ETH Zürich. Michael Felten ist seit 30 Jahren Lehrer für Mathematik und Kunst und Autor pädagogischer Fachbücher.

Gemeinsam haben beide ein Buch verfasst mit dem etwas trockenen Titel „Lernwirksam unterrichten“. Tatsächlich handelt es sich um angenehm zu lesenden „Stoff“, der beinahe süchtig macht nach mehr.

Struktur

„Der Lehrer berichtet“ und die „Lernforscherin nimmt Stellung“ lautet das durchgehende Schema und beinhaltet Themen wie:

  • Auf die Aufgabe kommt es an
  • Test ohne Stress
  • Helfen Methoden? Und wenn ja, warum nicht?
  • Der geborene Lehrer lebt im Nirgendwo
  • Warum die linke Gehirnhälfte zu vergessen ist (und auch die rechte)
  • und vieles mehr

Hier eine subjektive (was sonst …) Zusammenfassung einiger Kapitel, die mir besonders gefallen haben.

Weniger Überwachung

Auf dem Weg in seine Schule fällt Michael Felten ein Leuchtturm auf. Er kennt ihn, aber dieses Mal  hat er eine Idee: Wie weit kann man von einem Leuchtturm aus sehen? Trüben die neuen Windräder 40 km vor der Küste die Aussicht der Badegäste? (Er war mit seiner Klasse auf der Insel Borkum und alle haben bei dieser Gelegenheit die riesigen Windräder begutachtet.) Welche Antworten geben seine Schüler/innen auf solche Fragen? Und was hat das mit Japan und Überwachung zu tun?

Elsbeth Stern ergänzt diesen Ansatz. Was macht Lehrer/innen zu Expert/innen? Ihre Ausbildung und ihr Können. Von Chirurg/innen und Mechaniker/innen erwarten wir, dass sie unseren Bauch oder den unseres Autos ohne Komplikationen öffnen können und danach Kaputtes reparieren.

Die Ausbildung zur Lehrerin bzw. zum Lehrer dauert ungefähr so lange wie die zur í„rztin oder zum Arzt und länger als die zur Mechanikerin oder zum Mechaniker. Unsere Gesellschaft erwartet daher zu Recht, dass die Ergebnisse ähnlich erfolgreich sind wie beim Reparieren eines Autos oder einer Blinddarmoperation.

Eine wichtige Voraussetzung für sinnvollen Unterricht ist die Aufgabenstellung.

Welche Aufgaben müssen Lehrpersonen stellen, damit „Schüler ihr bereits bestehendes Wissen zum Aufbau neuer Inhalte nutzen können.“ (S. 13)

Dafür sind in dem genannten Fall Leuchttürme und Windräder gut geeignet, weil sie den Schüler/innen bekannt und vertraut sind, in anderen Gegenden können das Gipfelkreuze sein. Es gibt in der Zwischenzeit Belege dafür, dass die Aufgabenstellung extrem wichtig für das Verständnis ist.

Die Grenzen der Überwachung

In Münchner Grundschulklassen (= Volksschule in Österreich) wurden in Mathematik bessere Leistungen erbracht,  wenn Lehrer/innen „anregende Aufgaben stellten, aber nicht jeden Lösungsschritt kleinteilig überwachten“. (S. 13)

Selbstverständlich dürfen dabei Fehler gemacht werden! Aus Fehlern lernt man, lautet ein altes Sprichwort, das der wissenschaftlichen Überprüfung standhält. (Was nicht bei allen Sprichwörtern der Fall ist.)

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser, könnte ein pädagogischer Leitsatz für Lernerfolg lauten. (Das Lenin zugeschriebene Zitat lautet „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“.) Ein anderer: Im Kleinen das Große nicht vergessen.

Japan ist – neben Finnland – eines der „pädagogischen Musterländer“, die bei diversen Tests gut abschneiden — wobei wir hier die Diskussion über Sinn und Unsinn von Ländervergleichen (= Rankings) außer Acht lassen wollen.

Tatsache ist, dass japanische Schüler/innen im Bereich „Problemlösungen in Mathematik“ besser abschnitten als Schüler/innen aus den USA und Westeuropa.

Warum ist das so? Angeblich werden japanische Schüler/innen doch stur und dumpf gedrillt — nun sollen sie komplexe Aufgaben besser lösen als die kreativen (?) Jugendlichen im Westen?

Bildungsforscher/innen fanden bemerkenswerte Unterschiede im Unterricht. Während der westliche Mathematik-Unterricht meistens kleinteilig stattfindet, wurden japanischen Schüler/innen komplexe Aufgaben gestellt. Diese wurden auf Grundlage des vorhandenen Wissens nicht oder sehr umständlich gelöst.

„Nach diesen Erfahrungen waren die Schüler offen für die vom Lehrer vorgeführte Lösungsstrategie … Die Schüler hatten den Vorteil des neuen und abstrakteren Wissens verstanden und waren bereit, sich darauf einzulassen.“ (S. 15)

Apfel oder Birne?

Wer Kinder vor die Alternative stellt, entweder eine Schokolade oder einen Apfel zu essen, weiß die Antwort meistens im Vorhinein.

Die „gesündere“ Frage lautet: Möchtest du einen Apfel oder eine Birne?

Keine Wahlmöglichkeit hilft dem Lernen so wenig wie eine Wahl zwischen Schlaraffenland und Anbau von Erdäpfeln. Das eine klingt gut, existiert aber nur im Traum, das andere ist real und ermöglicht eine Ernte.

Das ist in etwa der Unterschied zwischen „laissez-faire-Unterricht“ (die Kinder wissen selbst, wann sie lesen und schreiben lernen oder schlafen gehen wollen — nämlich nie, wie die meisten Eltern wissen) und „demokratischem Unterricht“ (wir wollen Kindern etwas beibringen, das sie für ein gemeinsames Leben in dieser Welt brauchen und wollen sie nicht bloß für einen Test fit machen).

Der „autoritäre Unterricht“ (du musst das lernen, damit du ein Zeugnis bekommst) ist für das Lernen kontraproduktiv: Angst ist eine schlechte Motivation.

Elsbeth Stern meint, dass „Unmotiviert sein kein Schicksal ist“ und bezieht sich dabei auf Erkenntnisse der Neurobiologie, die bereits in der Reformpädagogik praktiziert wurden.

„Wenn Lernende sich als Verursacher ihrer Leistung erleben, steigt die Motivation. Kein Mensch möchte sich als fremdbestimmt erleben. … Wenn man einen Mathematiktest vorwiegend als Selektionsinstrument wahrnimmt, wird man sich weniger gut zum Lernen motivieren können, als wenn man mindestens eine Ahnung davon bekommt, warum man in einem naturwissenschaftlichen und technischen Beruf mathematisch denken muss. … Auch eine exzessive Benotungspraxis zerstört mit großer Wahrscheinlichkeit intrinsische (innere, etwas um seiner selbst willen machen, weil es mir selbst Freude bereitet, Anm. d. A.) Motivation.“ (S. 17)

Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung zu berücksichtigen gehört zum professionellen Wissen der Lehrer/innen.

Es gibt keine Lerntypen

Michael Felten fragt sich, ob die in Deutschland grassierende Mode der „Methodenwochen“ sinnvoll ist. Ganze Schulen widmen sich dabei dem Thema „Wie vermittle ich meinen Stoff und wie lernen Jugendliche das Lernen?“.

Ich muss dabei immer an Reinhard Kahl denken, der in einem seiner Vorträge sagte, das Stoffvermitteln sollten Lehrer/innen den Dealern überlassen.

Elsbeth Stern formuliert es aus wissenschaftlicher Sicht: Die Vermittlung von Lerntechniken ohne Inhalte funktioniert nicht. Lernen kann man nur mit Inhalten. Darum ist „Gehirnjogging“ zum Scheitern verurteilt. Das Einzige, was dabei gelernt wird, ist das Lösen von Aufgaben zum Thema „Gehirnjogging“. Das macht mitunter Spaß, aber es hilft weder dabei, eine neue Sprache zu lernen oder eine mathematische Gleichung zu lösen.

In einer Untersuchung wurde auch das beliebte Argument, Latein schule das logische Denken, widerlegt. Allerdings steigerte es die Aufmerksamkeit für Grammatikfehler in der eigenen Muttersprache. Andererseits half die Kenntnis der französischen Sprache beim Erlernen der spanischen. Latein-Schüler/innen waren in dieser Situation benachteiligt.

„Das Lernen ist also situationsspezifischer, als lange gedacht und erhofft. Es gibt keine Hinweise darauf, dass wir unsere Lernfähigkeit unspezifisch trainieren können.“ (S. 47)

Oder noch deutlicher:

„Werden Strategien hingegen losgelöst von den relevanten Inhaltsbereichen gelehrt, verkommen sie schnell zur lästigen Pflichtübung oder erleiden das Schicksal gut gemeinter Ratschläge: Wenn sie gebraucht werden, sind sie längst vergessen.“ (S. 49)

Elsbeth Stern fügt in diesem Kapitel hinzu, warum der Begriff der Lerntypen aus wissenschaftlicher Sicht abgeschafft gehört. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ein Mensch etwa ein (ausschließlich) visueller Lerntyp ist.

Diese Erkenntnis macht das Unterrichten zwar nicht leichter, aber es erklärt, warum die populärwissenschaftliche Mode der Lerntypen so wenig geholfen hat wie die „Verwendung“ von rechter und linker Gehirnhälfte für den Unterricht.

Lehrer werden ist nicht schwer

Zumindest nicht in den deutschsprachigen Ländern. Der Lehrer/innenmangel, der demnächst auf diese Länder zukommt, ist nur durch Aufnahme möglichst vieler Berwerber/innen zu kompensieren.

In Finnland bewerben sich zehn Mal mehr junge Menschen für diesen Beruf als dann genommen werden, ihr Image in der Bevölkerung ist außerdem hoch oben angesiedelt.

Bei einer Untersuchung von Uwe Schaarschmidt stellte sich heraus, dass viele der Lehramt-Studierenden in Deutschland leider wenig stressresistent waren, schlecht mit Misserfolgen umgehen konnten und über ein „gering ausgeprägtes Wissens- und Informationsbedürfnis“ verfügten.

Keine guten Voraussetzungen für den Beruf und vielleicht eine mögliche Erklärung für das überdurchschnittlich hohe Auftreten von Burn-Out-Symptomen bei Lehrpersonen.

Wie all diese Probleme nicht gelöst, aber zumindest vermindert werden können, das beschreibt dieses Buch auf höchst spannende Art!

Ein Tipp für den Sommer, der mir — trotz des irgendwie trockenen Titels — großes Lesevergnügen bereitet hat.

 

Das Buch
Felten, Michael; Stern, Elsbeth; Lernwirksam unterrichten. Im Schulalltag von der Lernforschung profitieren; Berlin; Verlag: Cornelsen Schulverlage GmbH; 2. Auflage 2012; ISBN 978-3-589-23292-5

 

Weitere Informationen

Die Website von Michael Felten:
http://www.eltern-lehrer-fragen.de/