Major Tom

Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Dieses Brecht-Zitat stand einst auf vielen Mauern. Der zweite Teil fehlte meistens:
Dann kommt der Krieg zu dir.

Jetzt ist er da.
Keine Kolumne heute, sondern ein Ausschnitt aus meinem nächsten Buch. Passt leider.

 

 

Major Tom

Erwin und ich gehen selten nach draußen, worunter wir ohnehin nur den Gang verstehen. Noch weiter, etwa zur Trafik zu gehen, kommt uns nicht in den Sinn. Wir sind immunsupprimiert, ein Wort, das ich durch langes Üben nun ohne Stolpern aussprechen kann. Alles da draußen ist gefährlich. Wir befinden uns in einem Zustand, der den meisten Europäern vertraut ist: Draußen existieren ausschließlich Feinde, die uns Böses wollen. Unsere Feinde sind allerdings real. Wir sind Keimen, Bakterien, Viren und anderen Scheußlichkeiten der Natur wehrlos ausgeliefert.

Ab und zu wage ich mich also hinaus und dort stoße ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Major Tom. Wie er wirklich heißt, weiß ich nicht, er spricht nämlich ein grässliches Amerikanisch mit deutschen Einsprenkseln, außerdem hat er kaum noch Zähne im Mund. Das hält ihn nicht davon ab, temperamentvoll auf jeden, also auch mich, einzusprechen. Offensichtlich vermutet er, dass ich Englisch kann, was nur sehr ansatzweise der Wirklichkeit entspricht. Eine schwarze Hilfskraft, die ihre Haare nach Art von Angela Davis trägt, versteht ihn offenbar besser als ich. Als er über die Nicht-Existenz von Gott philosophierte – so viel hatte ich immerhin verstanden – fragte sie ihn, ob er an Gott glaubte. Als er verneinte, schüttelte sie verwundert den Kopf und zog mit ihrem Besen weiter. Major Tom beeindruckte das nicht, er erklärte daraufhin eben mir die Welt.

Allmählich begriff ich, dass er mit einer Tiroler Bäuerin verheiratet war und weiter für die US-Armee arbeitete. Er war EDV-Spezialist und entwickelte Programme, falls ich das richtig verstanden hatte. Es konnte aber auch ganz anders sein, denn wenn er nicht sprach, starrte er in sein Notebook und beobachtete Autorennen, was für mich schwer in Einklang zu bringen war mit einer agentenähnlichen Tätigkeit. Aber wer versteht schon die Amis!

Trotz seines weitgehend zahnlosen Mundes machte er einen durchtrainierten Eindruck. Wenn er nicht gerade auf seinem Notebook Programme entwarf oder Filme ansah, keuchte er im Fitnessraum und ging dazwischen einige Zigaretten rauchen. Seine Anwesenheit wurde stets durch Wellen von Nikotinduft angekündigt, lange bevor er in Sichtweite war. Da es um meine Geruchsorgane immer schlechter stand, störte mich das nicht besonders.

Major Tom erklärte mir mit großem Engagement, dass der Mensch des Menschen Wolf sei. Diese Theorie kannte ich schon, wir hatten sie in den politischen Jahren des vorigen Jahrhunderts emsig diskutiert. Leider ist sie kaum widerlegbar, außer man hält den Menschen für anders geartet als den Wolf, was ja durchaus möglich ist. Wer auf die Natur verweist und ihre Gesetze, dass nämlich der Stärkere Recht hat und Fressen und Gefressen-Werden sie bestimmt, dem kann schwer widersprochen werden. Selbst einem Pazifisten gehen die Argumente aus, wenn eine Pistole auf seinen Kopf gerichtet ist.

Seltsam war diese Aussage allerdings, wenn sie von Major Tom getätigt wurde, der einen Atemzug später vom Mitgefühl der Menschen hier begeistert war. Außerdem fand er die medizinische Versorgung hierzulande extrem gut. In seiner Heimat könnte er das alles nicht bezahlen.

Ist das nicht ein Widerspruch zu seinem Leitmotiv? Wenn der Mensch des Menschen Wolf ist, dann müsste er doch elend an seiner Krankheit sterben?

Nein, antwortete er. Das System hier ist gut für ihn. Aber auf Dauer wird das andere, das Gesetz der Natur, sich durchsetzen.

Manchmal fürchte ich, dass er Recht hat.