Brüllen ist unser Sport!

Wir brüllen alles nieder!

Brüllen macht Spaß!

Seit einigen Jahren mache ich mir Sorgen.

Ja, auch um die Weltlage, um meine Finanzen, um meine Beziehungen – aber mehr noch mache ich mir derzeit Sorgen um den Sport!

Sind wir „noch immer die alten Affen“,
wie Erich Kästner vermutete?
Ich glaube: JA!

 

Ich brülle, also bin ich

Wer Thomas Müller nach einem Tor oder Sascha Zwerev nach einem gewonnen Spiel umherrennen sieht, wird die Frage möglicherweise mit Ja beantworten. Die Moderatoren sind dennoch begeistert und nennen das wohl eine „echte Emotion“. Mir kommt es eher wie eine Niederlage der Vernunft vor.

Ich erinnere mich an meine Jugend. Wenn damals jemand siegte, freute sie oder er sich. Ruhig, in sich gekehrt oder, wenn schon emotional, dann doch ziemlich leise. Björn Borg griff sich nach seinem Sieg in Wibledon mit beiden Händen an die Stirn, das Zornbinkerl Mc Enroe hob beide Arme und auch Boris Becker freute sich bloß, als er Wimbledon gewann.
Ich kann mich an keinen Sportler erinnern, der mit aufgerissenem Mund – beinahe hätte ich Maul geschrieben – umherrannte und brüllte.

Offenbar eine Erinnerung aus der Steinzeit des Sports.

Andererseits: Zu meinem Erstaunen jubelte der Sieger der Australian Open, Yannick Sinner, auf eine Art, die mich an früher erinnerte. Er lächelte statt zu brüllen! Eine singuläre Erscheinung oder ein Hinweis auf eine baldige Zivilisierung der Menschheit?

Sein Gegenüber, den Deutschen Zwerev, hatte ich einige Male siegen gesehen. Er brüllte daraufhin so, als ob er einen Löwen in die Flucht schlagen wollte.
Ist das normal?, fragte ich mich und antwortete: Nein.
Leider beobachte ich seit geraumer Zeit Sportler und ihre Begleiter, die Trainer, Therapeuten und was sie so in ihrem Schlepptau haben und stelle fest:
ALLE BRÜLLEN!
Im Fußball laufen aufgeregte Trainer am Spielrand hin und her, schreien wie Paviane, denen ein Tiger auf den Fersen ist und halten das für Taktik.

Also die meisten von ihnen.

Ist das der sogenannte Zeitgeist?
Noch gibt es Wettbewerbe, in denen nicht rumgebrüllt wird als stehe der Weltuntergang bevor. Beim Schachspiel fehlen solche Gemütsbewegungen noch, ebenso beim Golfen, wobei bei letzterer Art des gemütlichen Gehens bisweilen schon die Faust geballt wird.

Die Faust ist seit einiger Zeit ja das Sinnbild des Siegers.
Ohne Faust geht etwa beim Tennis gar nichts.
Sportreporter warten sehnsüchtig auf dieses Zeichen. Wenn es nicht kommt, fürchten sie bereits die Niederlage und stöhnen erleichtert auf, wenn der Spieler es zeigt.
Also sie, die Faust.
Nicht die von Goethe, der ja ein Mann war.
Sondern die echte, die männliche Faust.

Es ist nämlich so, dass die Faust anscheinend ein Erkennungsmerkmal des Mannes ist. Frauen zeigen ihre Fäuste viel seltener. Auch im Sport.

Sinner, die derzeitige Nummer Eins im Tennis, scheint in diesem Bereich verweichlicht: Er zeigt keine Faust.

Mir gefällt das.
Ich halte das Rumgebrülle und Faustzeigen nämlich für ein Symbol.
Für ein Symbol des Krieges.
Und nicht für ein Symbol des Sports.

In diesem Sinn:
einen schönen Spätfrühling
Ihr/euer
Erich Ledersberger