Als mein Ich verschwand

Leseprobe der Kurzgeschichte „Als mein Ich verschwand“

Bild von Ursula Tiefengraber

Die zwölfte, also letzte Leseprobe aus meinem neuen Buch:
„Als mein Ich verschwand“

Dieses Mal die dritte Seite der titelgebenden Geschichte.

 

 

 

„Als mein Ich verschwand“

„Ich komme gerade aus der Handelsakademie und bespreche mit Birgit noch ein paar Kleinigkeiten. Danach führe ich deinen Auftrag aus. Ich freu‘ mich schon auf unser Essen. Ich komme ungefähr in einer Stunde.“

Die Stimme der Frau am Handy jubelt.

„Welchen Auftrag?“, fragt der Mann.

„Das Buch von Aldous Huxley von der Kunst des Sehens. Hast du das vergessen? Du hast beim Frühstück gesagt, ich soll es holen. Macht nichts, ich bringe es trotzdem.“

Sie legt auf.

Huxley, denkt der Mann. Der hat ‚Brave New World‘ geschrieben. Dann fällt ihm ein, dass Paul ihm ein Buch empfohlen hat. Er kann sich nicht erinnern, dass er es bestellt hat.

Und von welchem Essen spricht sie?

Er hat Lust, eine Runde zu schlafen. Vorher ruft er seine Frau zurück.

„Ich lege mich kurz hin und schlafe ein bisschen. Wann kommst du eigentlich nach Hause?“

„Das habe ich dir doch vor fünf Minuten gesagt. Erinnerst du dich nicht?“

„Echt? Das muss ich überhört haben.“

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragt Alexandra.

„Ja. Natürlich. Entschuldige. Ich lege mich ins Bett.“
Er legt auf.

„Buch ist da!“, ruft ihre Stimme aus dem Vorzimmer. „Oh, du schläfst noch. Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“

„Macht nichts“, sagt er. „Welches Buch?“

Sie sieht ihn an, schüttelt den Kopf.

„Aufwachen! Ich freu‘ mich aufs Essen.“

Der Mann runzelt die Stirn.

„Welches Essen?“

„Du hast gesagt, du kochst heute. Und du wolltest vorher noch einkaufen. Darum bin ich mittags nicht in der Kantine gewesen. Erinnerst du dich nicht?“

„Nein.“