Die Bildungs-Hochstapler

Gleich zu Beginn der Hinweis darauf, dass es sich bei diesem Buch um keine Klage über schlechte Lehrerinnen und Lehrer handelt, sondern darum, dass unsere Lehrpläne viel zu hoch gesteckte Ziele formulieren, die in der Praxis nicht zu erreichen sind.

„Warum unsere Lehrpläne um 90 % gekürzt werden müssen“, heißt es im Untertitel dieses Buches. Der Autor, Thomas Städtler, hat auf ungefähr 500 Seiten gesammelt, woran Bildung scheitert. Lehrpläne, die von Lehrerinnen und Lehrern das Unmögliche fordern und gerade das nicht zustande bringen, wofür Schule steht: Bildung.

Kernpunkt ist die Tatsache, dass von dem „Wissen“, das in der Schule unterrichtet wird, wenige Jahre danach kaum etwas übrig geblieben ist. Städtler stellt die Hypothese auf, dass ein Prozent nachhaltig im Gedächtnis bleibt.

Das klingt polemisch, allerdings führt der Autor zahlreiche Hinweise, gar Beweise für diese Behauptung an. Die Kapitel des Buches orientieren sich an einigen Gegenständen wie Mathematik, Geschichte, Biologie, Wirtschaft, Deutsch, Englisch, Physik und schließlich Musik, Sport und Kunst.

So hat die PISA-Studie ergeben, dass 24 %, also ein Viertel der 15-Jährigen in Mathematik lediglich das Grundschulniveau erreichen bzw. liegen sie teilweise noch darunter.  Bei einer anderen Untersuchung stellte sich heraus, dass ungefähr die Hälfte der 18-Jährigen grundlegende Aufgaben der Prozentrechnung nicht bewältigte.

Ein Mathematikbeispiel, das nicht gelöst werden konnte, zur Illustration:
„Bei einer Wahl in einer Schule mit drei Kandidaten bekam Jan 120 Stimmen, Maria erhielt 50 Stimmen, Georgs 30 Stimmen: welchen Prozentsatz der gesamten Stimmen bekam Jan?“

Auch in den untersuchten Gymnasien sieht die Sache nicht besser aus. Kaum wurde das „Wissen“ abgeprüft, wurde es auch schon vergessen. Bulimielernen wird das mittlerweile genannt. In der elften Klasse (entspricht bei uns der siebenten Klasse) können 98 % Aufgaben nicht mehr bewältigen, die einige Schulstufen zurück liegen. Gemeint ist dabei zum Beispiel folgende Aufgabe:
„Vereinfache 5a  + 11b + 7a“.

50 % der Gymnasiasten und Gymnasiastinnen konnten auch folgende Aufgabe nicht lösen:
„Ein 45.000 Liter fassender Wassertank wird mit einer Geschwindigkeit von 220 Litern pro Minute gefüllt. Schätzen Sie auf eine halbe Stunde genau, wie lange es dauert, den Tank zu füllen.“

Ähnliche Ergebnisse finden sich auch in den anderen Gegenständen.
Beispiel Geschichte: Bei einer umfassenden Untersuchung aus dem Jahr 2005 stellte sich heraus, dass 69 % der Befragten nicht wussten, welche Stadt das Ziel der Kreuzzüge gewesen ist. 54 % der Westdeutschen wissen nicht, was der Begriff „Stasi“ bedeutet.

Beispiel Biologie: 80 % der Schüler/innen (und immerhin 17 % der Lehrer/innen) wussten nicht, wer der Begründer der modernen Evolutionstheorie ist.

Beispiel Sozialkunde: Nur etwa die Hälfte der Deutschen hat schon etwas vom Begriff Gewaltenteilung gehört.

Weil es Sozialkunde in Österreich nicht gibt (nur in Kombination mit Geschichte), ein kurzer Hinweis auf Lehrziele, wie die Schülerinnen und Schüler in Deutschland sie erreichen sollten.
„Sie sollen die europäische Integration beurteilen können, die Probleme und Chancen der Osterweiterung, grundlegende historische Zielsetzungen der europäischen Integrationspolitik und den derzeitigen Stand des europäischen Integrationsprozesses.“

Wie sie das tun sollen, wenn sie nicht einmal wissen, was Gewaltenteilung bedeutet, das fragt sich nicht nur Thomas Städtler. Ähnliche Erfahrungen können wir sicher machen, wenn wir scheinbar ganz einfache Fragen stellen. Ich hatte einmal eine Lesung in einer fünften Klasse Handelsakademie. Weil ich Wirtschaftspädagoge bin, interessierte mich, ob mir jemand den Unterschied zwischen Bestandskonten und Erfolgskonten erklären könnte. Ich verstünde nichts von Rechnungswesen, man möge es mir ganz einfach erklären. Keiner der jungen Menschen schaffte das. Ich bin sicher, sie hätten mir den Buchungssatz für einen komplizierten Geschäftsfall, den sie gerade durchgenommen hatten, wunderbar auswendig aufsagen können.

Thomas Städtler plädiert für nachhaltiges Wissen, nachhaltige Bildung. Auch für Bildungsstandards. Allerdings für Mindeststandards, nicht für Regelstandards.

Und abschließend — Lernen geschieht durch Wiederholung — nochmals der Hinweis: Dieses Buch richtet sich nicht gegen Lehrerinnen und Lehrer.

„Realistische Lernziele! — … Wir brauchen eine Stoffreduktion um 90 %. … Dann existiert endlich das optimale Verhältnis von Ziel und Aufwand. Dann können wir ein Vielfaches mehr an Stoff vermitteln als gegenwärtig, wo überhöhte Ziele ins Gegenteil umschlagen.

Dann können endlich alle Beteiligten wieder auf eine so gründliche, verständnisvolle, vertiefende und, ja, so liebevolle Weise lehren und lernen, wie sie schon immer wollten, aber nicht konnten und nicht durften.“

Das Buch
Städtler, Thomas, Die Bildungs-Hochstapler, 2011, Spektrum Akademischer Verlag,
ISBN 978-3-8274-2150-0

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