Nach dem Kopftuch

Harald Martenstein ist Kolumnist der Zeit und mir ökonomisch überlegen. Während ich Monat für Monat für einen Hungerlohn Kolumnen für den „Innsider“ schreibe, Verlage auf meine unentdeckten Talente hinweise und mich untertags als Lehrer durch die Zeiten gfretten muss, lebt der Mann in Saus und Braus, indem er ein Mal pro Woche (!) ein paar Zeilen schreibt.
Die allerdings, das gebe ich neidlos zu, sind wirklich gut!
Etwa der Text über das Tragen von Kopftüchern. Martenstein zufolge ein wunderbares Mittel zur Erzeugung von Aufregung. Und womit können Jugendliche heutzutage schon aufregen? Genau. Mit einem Kopftuch.
Zu meiner Zeit noch ein ganz normales Kleidungsstück, das meiner Großmutter Schutz vor Regen und Sonne bot — heute: eine Provokation. Diese Erkenntnis hatte er allerdings nicht selbst, sondern eine Feministin trug sie ihm zu.

Kein Wunder, dass online bereits wütend reagiert wurde:
„… und überhaupt: eine feministin gehört sicher nicht zu denen, die ganz nah an der jugend dran sind und wissen, was da geht.“

Genau, Feministinnen haben von nichts eine Ahnung und sind bekanntlich sogar gegen Fußball, wenn er von Männern gespielt wird. Insgesamt also unzurechnungsfähig und realitätsfern.

Mir kommt die Überlegung aber durchaus logisch vor. Seit jeder 50-jährige Mann ohne Probleme im Fernsehen eine Halbglatze und dahinter einen Rossschwanz haben darf, pragmatisierte Briefträger auf der Donauinsel ihre gepiercten Geschlechtsteile spazieren tragen und hoch bezahlte Fußballer tätowiert wie Seeräuber durch die Gegend laufen und so viel verdienen wie kein Arbeiter in 100 Leben, fällt Protest schwer, wenn man nicht gerade Amok laufen will.
Was also tun?
Das Kopftuch ist ein probates Mittel, noch dazu ohne Gefahr einer permanenten Verletzung. Wenn ich daran denke, wie sehr eine meiner Schülerinnen mit 19 Jahren bereute, dass sie sich auf ihren Rücken einen Tiroler Adler stechen ließ! Dagegen ist das Kopftuch eine deutlich bessere Alternative.

Die Frage ist nur: Was tun, wenn das Kopftuch sich durchsetzt wie zu Zeiten meiner Großmutter? Womit sollen Jugendlich dann protestieren?

Vielleicht mit einem Kreuz um den Hals, einem weißen Stehkragen und einem T-Shirt mit dem Wappen von Nordkorea!
Wie dem auch sei: Im Interesse der Jugendlichen plädiere ich für Utensilien, die sie später ablegen können. In diesem Sinn: Lasst tausende Kopftücher blühen.

PS: Wer „gfretten“ nicht versteht — die Bedeutung des Wortes ist ein wenig unklar, jedenfalls handelt es sich darum, eine Aktivität mit großer Anstrengung, aber nicht wirklich erfolgreich über die Bühne zu bringen. Diese Arbeit kann das Leben an sich sein („Man gfrettet sich so durch.“) oder ein Zusammentreffen mit Menschen, die man treffen muss, aber nicht leiden kann. Dann war das Ganze „ein echtes Gfrett“ im Sinne von anstrengend ohne Sinn und Zweck. Peter Wehle übersetzt Gfrett schlicht mit Komplikation, fretten mit „sich abmühen, sich einschränken.“

Ein Gedanke zu „Nach dem Kopftuch

  1. Richard Leckel

    Josef Weinheber:
    ’s war net Wien,
    wenn net durt,
    wo ka gfrett is, ans wurt.
    denn des gfrett ohne grund
    gibt uns kern, halt uns g’sund!

    Statt Wien ist problemlos ein beliebiger Ortsname einzusetzen.

    P.S.: Mit der ideologischen Heimat des Herrn Weinheber habe ich nichts am Hut!

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