Wie versprochen: KEINE POLITIK! Nur mehr Neues aus dem wirklichen Leben.
Neulich erinnerte ich mich an meine Jugend. Die ist lange her, aber an einzelne Szenen kann ich mich gut erinnern. Etwa an den Gang zum Frisör.
Alle drei Wochen fuhr ich mit meinem Vater zu ihm in den 2. Wiener Gemeindebezirk.
Böcklinstraße
Es war in den späten 1950er Jahren. Mein Vater war ein solidarischer Sozialdemokrat, wie ihn Genosse Babler sich wünschen wird, der „seinen“ Bezirk, die Gemeindewohnungen im 3. Bezirk, abends betreute und sich die Sorgen der Bewohnerinnen anhörte, während meine Mutter und ich auf ihn warteten.
Manchmal gab es daheim Ärger wegen seiner sozialen und politischen Taten, aber er glich dieses Manko durch tolles Kochen aus. Seine Suppen waren so köstlich wie sein selbst gemachtes Fleischaspik. Dem Fleischhauer traute er nicht, der mischte bloß alles rein, was übrigbleibt. Seine Sülze, wie man in Wien sagt, mochte sogar ich, dem üblicherweise bloß Wiener Schnitzel ohne Flachsen schmeckten.
Seine Zuwendung zu mir, dem widerspenstigen Sohn, der nicht einsah, dass ihm die Menschen draußen wichtiger waren als die Familie, begegnete er mit väterlicher Würde: Er beachtete meine Einwände kaum. Obwohl: Ihm war wohl beides wichtig, das Große draußen in der Welt und das Kleine in der Familie. Wie auch immer, jede dritte Woche fuhr ich mit ihm in den 2. Bezirk. Der war ziemlich weit entfernt vom 11. Bezirk, Simmering, in dem wir wohnten. Das machte ihm nichts, der Mann war schlicht „sein“ Frisör, mit dem er wichtige politische Themen besprechen konnte und noch vieles mehr.
Auch mir gefiel die Fahrt in den Prater. Ich saß neben meinem Vater, dem Chauffeur, ohne Gurt und Kopfstütze. Solche Sicherheiten gab es damals nicht, wir lebten in gefährlichen Zeiten, ohne es zu ahnen.
Am Zielort angekommen, stiegen wir aus, ich schritt an der Seite meines Vaters, allein, ohne die sich ständig sorgende Mutter und nahezu frei, zum Frisör. Dort angekommen fanden wir den Meister der Haare in seinem Stuhl sitzend vor, eine Zeitung in den Händen und auf Kunden wartend. Manchmal waren sogar welche da, dann setzten wir uns auf einen der Stühle, redeten miteinander oder lasen in der Zeitung oder dem Buch, das ich für solche Fälle mitnahm. Es waren schöne Stunden dort, in der Nähe des Praters und des Riesenrades.
Gleich oder später kamen wir an die Reihe. Mein Vater als erster, danach ich. Das Schnippschnapp der Schere gefiel mir, am liebsten hatte ich den Abschluss, dann, wenn der Frisör zum Messer griff. Irgendwie machte es mir Angst, andererseits freute ich mich auf das Kratzen im Nacken. Angst hatte ich, wenn ich daran dachte, was diese scharfe Schneide anrichten konnte. Freude, wenn das Messer an meinem Nacken entlangglitt, die letzten Haarspitzen entfernt wurden. Dazu der Alkohol, der kalt auf meine Haut spritzte.
Es waren gemütliche Vormittage, die wir hier verbrachten, ohne Eile, ohne Hektik. Ich denke gerne an diese Zeit zurück.
Wenn meine Frau heute zum Frisör geht, muss sie sich anmelden. Neulich bekam sie einen Termin in fünf Wochen. Nur die Wartezeiten für Ärzte sind noch länger. Wenn ich als Kind krank war, rief mein Vater den Arzt an und der kam. Manchmal einige Stunden später, manchmal am nächsten Tag. Oder wir gingen in die Ordination und warteten geduldig, bis wir drankamen. Es gab meines Wissens nach drei praktische Ärzte für Simmering, einem Stadtteil mit etwa 100.000 Einwohnern, heute gibt es dort 46 Medizinerinnen und Mediziner. Ohne Anmeldung geht auch dort nichts mehr.
Soll das heißen, dass wir alle kränker geworden sind, aber gepflegter?
Selbst der Besuch eines Restaurants gelingt heute nicht mehr ohne Reservierung, sogar einfache Dorfgasthäuser bestehen bisweilen darauf. Ein Tisch, der freigehalten, aber dann nicht besetzt wird, ist die reine Katastrophe, wie ein Wirt klagte. Der koste ihn mehrere Tausend Euro Umsatz, stöhnte er in die Kamera. Er überlege, Reservierungen nur mehr gegen Entgelt anzubieten. Eine Berliner Frisörin ist da schon einen Schritt weiter. Sie vergibt Termine nur noch gegen Vorauszahlung.
„Zeit ist Geld“ empfahl Benjamin Franklin bereits 1748 in seinem Ratgeber jungen Kaufleuten. Der Satz ist natürlich Unsinn, sonst könnten Millionäre sich Unmengen Zeit kaufen. Aber er symbolisiert die Hektik des Kapitalismus. Alles soll schnell gehen, wie bei McDonald‘s. Reingehen, kaufen, rausgehen und dann der und die Nächste.
Aber flott!
Darum werden Züge und Autos immer schneller, müssen Esstische rasch geräumt werden und jeder Frisörstuhl effektiv besessen werden.
War früher alles besser? Sicher nicht.
Aber das Tempo war jedenfalls angenehmer.
Schöne Tage euch allen
Ihr/euer
Erich Ledersberger