Die Welt verändern – aber wie?

In meiner Jugend erfüllte mich ein Wunsch: Die Welt verändern, so, wie Jesus das wollte. Ich war gläubig, zumindest, was die christliche Botschaft der Nächstenliebe anlangte, dieses ‚Liebt die Menschen, wie ihr euch selbst liebt‘.

Das war später auch die Botschaft des Kommunismus‘. Beide Religionen scheiterten.

 

Was tun?

Die Botschaft des freien, selbstbestimmten Menschen begeisterte mich. Ich las mich durch die deutsche Gegenwartsliteratur. Heinrich Böll (‘Ansichten eines Clowns‘, ‚Gruppenbild mit Dame‘, ‚Katharina Blum‘, seine Kurzerzählungen und viele Bücher mehr), Wolfgang Borchert (‚Draußen vor der Tür‘) und Günther Grass (‚Die Blechtrommel‘, ‚Die Plebejer proben den Aufstand‘, ‚Katz und Maus‘). Die Bibliothekarin in Wien Simmering – niemals vergesse ich ihren Ekel über ein zurückgegebenes Buch, das mit einer Büroklammer versehen war – wunderte sich über meine literarischen Vorlieben.
„Lesen Sie nichts anderes als diesen (sie schluckte widerwillig) Günther Grass?“

Irgendwie tat sie mir Leid. Aber ich wollte trotzdem Günther Grass lesen.
Ich lebte in einer Zeit, als Bücher wertvoll waren. Und viele Autoren verfemt. Bert Brecht war in Wien inoffiziell verboten, Günther Grass ein Kauz. Und Bücher teuer. Selbst meine Eltern – der Vater gut verdienend, aber nicht wohlhabend – konnten sich die vielen Bücher, die ihr Sohn gerne lesen wollte, nicht leisten. Zum Glück gab es Bibliotheken, Orte, an denen man sich Bücher leihen konnte, um sie drei Wochen später zurückzugeben.

Ich antwortete der Bibliothekarin nicht und orderte das nächste Buch von Günther Grass.
Meine Verbundenheit mit ihnen, Böll und Grass, Borchert war schon tot, war so groß, dass ich sie irgendwann kennenlernen wollte. Sie starben, ohne von meiner Existenz zu wissen. Ich weinte und versprach, das nächste Mal schneller als der Tod zu sein. Es gelang nie.
Diese Bücher waren meine Geburtshelfer für ein moralisch gutes Leben.

Später kam Sigmund Freud dazu. Er befreite mich von meinen unbewussten sexuellen Fesseln. Onanie war also doch keine Sünde und verursachte keinen Rückenmarkschwund, Schuldgefühle waren ebenso anerzogen wie Ekelgefühle. Ich atmete auf.

In einem bestimmten Alter dominieren sexuelle Gefühle den Menschen. Mit Mitte 20 wäre ich am liebsten nach Indien gefahren, zu Baghwan, dem Mann, der in seinem Ashram die freie Liebe propagierte. Leider war diese Freiheit mit der Anbetung durch seine Gefolgschaft verbunden. Männlein und Weiblein himmelten den Mann an, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, 365 Rolls Royce zu besitzen. Junge Frauen küssten des Meisters Füße,

Mein Wunsch nach Sexualität war nicht so groß, dass ich diese autoritäre, nahezu faschistoide Haltung akzeptieren konnte. Also blieb ich in Europa. Übrigens fand die sexuelle Freiheit später beim Meister ein jähes Ende. Aus Angst vor AIDS verbot der Meister Küsse und Berührungen. Sie waren von Stund an nur mit Handschuhen erlaubt, Küsse obsolet.

Was mich an den kuriosen Lehren fasziniert: Scheinbar intelligente und kluge Menschen glaubten ihnen. Die Sängerin Nena findet angeblich noch heute den Unsinn super.

Baghwan und die Maoisten

Mit diese Art von Weltverbesserung konnte ich bereits damals nichts anfangen. Aber da gab es noch andere. Die waren vielversprechender, wenn auch sexuell nicht so aufregend.

An der Uni lernte ich linke Bewegungen kennen. Die Sozialdemokratie kannte ich von meinem Vater, der abends als Vertrauensmann durch die Wohnungen der Genossen pilgerte. Es war eine bemühte, sozial engagierte und gleichzeitig sehr biedere Partei. Das Wirtschaftssytem des Landes, den Kapitalismus, rührte die Partei nicht an.

Ich studierte auf Anraten der staatlichen Berufsberatung Betriebswirtschaft und fand mich bei Karl Marx wieder. In den Lehrbüchern der ‚Hochschule für Welthandel‘, heute Wirtschaftsuniversität, schwätzten ‚Wissenschaftler‘ von Produktionsfaktoren. An letzter Stelle kam der Mensch.
Das empörte mich.

Und daran wollte die Partei meines Vaters nichts ändern? Bevor wir darüber streiten konnten, starb er. Irgendwie auch empörend.
An der Uni gab es neben den braven Jungsozialisten, die eine Parteikarriere anstrebten, auch Maoisten und Trotzkisten. Sie waren mir sympathisch, denn eine Karriere konnten sie nicht anstreben. Die Maoisten vielleicht in China, die Trotzkisten nirgendwo. Sie gefielen mir am besten.
Ihre Argumente leuchteten mir ein. Aber warum hörte sie niemand? Diese Frage beschäftigt mich noch immer.

Der Mangel der Vernunft

Ein halbes Jahrhundert später hat sich an vielen Stellen nichts geändert. Manches ist schlimmer geworden, manches besser. Aber nach wie vor wird die Realität verleugnet. Und die Vernunft. Die Kriege auf Erden beweisen es.

 

Zusatz:
„Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden? Es ist nicht zu sagen, aber vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, daß der Einfluss dieser beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird. Auf welchen Wegen oder Umwegen, können wir nicht erraten. Unterdes dürfen wir uns sagen: Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.
Ich grüße Sie herzlich und bitte Sie um Verzeihung, wenn meine Ausführungen Sie enttäuscht haben
Ihr
Sigm. Freud“

Aus dem Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein zum Thema ‚Warum Krieg?‘. Die Briefe wurden 1932 geschrieben, sechs Jahre später begann der Zweite Weltkrieg.