Selbstverständlich sollte mit Zahlen nicht manipuliert werden! Aber was bleibt einem übrig, wenn eine Gesellschaft alles messen will?
Kein Wunder, dass selbst Erscheinungen wie Erdstrahlen und Schulnoten mit präzisen Ziffern untermauert werden müssen und danach viel glaubwürdiger erscheinen.
Ich glaube, also bin ich
Das Zeitalter der Aufklärung war nett, aber irgendwie unbefriedigend. Dauernd eigenständig denken und argumentieren, das macht verdammt müde! Die Sehnsucht nach einfachen Erklärungen für unerklärliche Erscheinungen steigt daher seit Jahren.
Wo die Nachfrage wächst, wachsen sogleich Angebote wie die bekannten Schwammerln (für nördlich von #Kakanien lebende Menschen: Pilze) aus dem Boden. Der globale Markt bietet für jeden etwas, von unsinnigen Weltmodellen über heilende Steine und Zuckerkügelchen bis hin zu Geisterbeschwörungen, um die Wohnung mit spiritueller Energie anzureichern.
Gleichzeitig haben sich im Laufe der Jahrhunderte Zahlen als einigermaßen verlässliche Orientierung in einer komplizierten Welt etabliert und so verwundert es nicht, dass in modernen Zeiten Wasseradern nicht mit einer simplen Rute gefunden werden, sondern mit einem Geo-Magnetometer.
Auch Elektrosmog kann endlich ziffernpräzise dokumentiert werden, wodurch man Krankheiten wie Burnout, Tinnitus oder Rückenschmerzen vermeiden kann, meint zumindest das „Institut für Erdstrahlen und Elektrosmog“ in der Schweiz.
Die ETH-Zürich hat einige Geräte überprüft und kommt zu dem Ergebnis: «Wenn man das Gerät kauft, kauft man im Wesentlichen den Glauben, dass es einem nachher besser geht – und zwar zu einem Betrag, der im Vergleich zum Materialwert exorbitant ist.»
Selbst ein Rechtspopulist wie Orban spricht nicht mehr ganz allgemein von einer jüdischen Weltverschwörung, sondern er kennt „namentlich 2.000 Soros-Söldner“, was natürlich viel bedrohlicher wirkt.
Zahlenpädagogik
Ich muss übrigens gestehen, dass ich den Glauben an Zahlen während meiner Arbeit als Lehrer schamlos ausgenutzt habe.
In den Wochen vor Semesterschluss, in denen zu meinem Leidwesen Noten eingetragen werden mussten, wurden einige Schülerinnen und Schüler nervös. Plötzlich interessierten sich auch jene für ihre Beurteilung, die während der übrigen Schulzeit auf Fragen meinerseits mehr irritiert als wissbegierig reagierten.
„Auf welcher Note stehe ich?“, lautete die häufigste Frage und knapp danach: „Kann ich mich noch für eine Prüfung anmelden?“
Weil die Stunden bis zum Eintrag der Noten sich zogen wie der bekannte Strudelteig, weil ständig jemand sich „verbessern“, also im letzten Moment eine bessere Note haben wollte, griff ich zum Glauben an Zahlen.
Ich entwarf eine Tabelle mit unterschiedlichen Spalten und trug darin Schularbeiten, Tests, Mitarbeit und noch ein paar andere Bereiche ein. Daraus bildete ich eine Note mit mindestens zwei Dezimalstellen.
Wenn eine Schülerin oder ein Schüler fragte, welche Note er oder sie bekomme, zeigte ich – in der Pause, schließlich sollte keine wertvolle Unterrichtszeit verloren gehen – meine Tabelle.
„Du stehst auf 2,76, das ergibt im Zeugnis eine 3.“
Seither hatte ich keine Probleme mehr bei der Notengebung.
Wer kann schon gegen eine Note, noch dazu auf zwei Dezimalstellen mit einer Tabellenkalkulation berechnet, argumentieren?
In diesem Sinn: einen schönen Mai wünscht euch allen
Erich Ledersberger