Die Arbeitslosen von Marienthal

Marienthal

Schade, dass Österreichs auf seine internationalen wissenschaftlichen Erfolge nicht so stolz ist wie auf die Medaillen bei Olympischen Winterspielen.
Nicht anders ist es zu erklären, dass kaum von einem Jubiläum Notiz genommen wird, das heute noch — oder wieder — aktuell ist: Vor 80 Jahren erschien in Leipzig das Buch „Die Arbeitslosen von Marienthal“.

Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel beschreiben darin wissenschaftlich und verständlich die Situation von Arbeitslosen in dem ehemaligen Industrieort. Das Forschungsprojekt wurde von 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, unter ihnen die bedeutende Entwicklungspsychologin Lotte Schenk-Danziger, durchgeführt.

Das damals neue und heute noch spannende Verfahren: Die Wissenschafter/innen beobachteten nicht nur, sondern nahmen am Leben der Menschen teil. Sie wollten nicht bloß „forschen“, sondern auch helfen.

Marienthal war bis etwa 1928 ein wirtschaftlich florierender Ort. Die Wirtschaftskrise führte zu einer raschen Verelendung, 1930 waren 80 % der Arbeiterinnen und Arbeiter arbeitslos. Das soziale Netz war dürftig, Familien verarmten und verzweifelten. Eine Entwicklung, wie wir sie in Ländern wie Spanien und Griechenland heute beobachten können.

Während manche glaubten, Arbeitslosigkeit würde die Menschen dazu bewegen, sich zu wehren, mussten die Wissenschafter/innen feststellen:
Armut macht nicht revolutionär, sondern apathisch.

„Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft seit den Anfängen ihrer Organisation um die Verlängerung der Freizeit kämpft, der könnte meinen, daß in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei. Aber bei näherem Zusehen erweist sich diese Freizeit als tragisches Geschenk. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere. Wenn sie Rückschau halten über einen Abschnitt dieser freien Zeit, dann will ihnen nichts einfallen, was der Mühe wert wäre, erzählt zu werden.“ (S. 83, Die Arbeitslosen von Marienthal)

Vielleicht geht bereits aus diesen Zeilen hervor, warum dieses Projekt für die Sozialforschung ein so wichtiger Einschnitt war. Hier schrieb eine Autorin — Marie Jahoda — in einer verständlichen, lesbaren Sprache. Sie war damals 25 Jahre alt und Mitglied der „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“, verstand sich also (auch) als Schriftstellerin. Ihr Ziel — und auch das ihrer Kolleg/innen — war es, die Wirklichkeit nicht nur zu untersuchen, sondern sie auch zu verändern, zumindest an ihr Teil zu haben.

„Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, daß kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben natürlich einzufügen hatte.“ (S. 150 Wien, Stadt der Juden)

Wissenschaft soll den Menschen nützen und nicht bloß im luftleeren Raum, dem berüchtigten „Wolkenkuckucksheim“, existieren. Ziel, besser wohl: Hoffnung der Forschenden war, dass ihre wissenschaftliche Untersuchung der Arbeitslosigkeit in Zukunft bloß eine historische Erinnerung sein wird. Arbeit ist schließlich genügend vorhanden, sie muss bloß gerecht verteilt werden.

Diese Hoffnung ist bisher eine Illusion geblieben. In Spanien sind laut einer Statistik 56 % Jugendliche arbeitslos, in Griechenland sind es an die 60 %.

Ob sie apathisch werden oder wütend, ist noch nicht klar, eine Auseinandersetzung mit dem Thema am Beispiel Marienthal hilft zumindest, ein Bewusstsein zu schaffen für ihre Situation.

Am Ende noch ein Zitat aus der Einleitung des Buches:
„Was wissen wir über Arbeitslosigkeit? Es gibt statistische Nachweisungen über den Umfang der Arbeitslosigkeit und das Ausmaß der Unterstützung, gelegentlich verbunden mit eingehender Gliederung nach Alter, Geschlecht, Berufsaufbau und Lokalverhältnissen; … Zwischen den nackten Ziffern der offiziellen Statistik und den allen Zufällen ausgesetzten Eindrücken der sozialen Reportage klafft eine Lücke, die auszufüllen der Sinn unseres Versuches ist.“

Und der Hinweis darauf, dass dieses Projekt aus den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorbildlich emanzipiert war, ohne dass darauf extra hingewiesen wurde:
Sowohl Forschende als auch die zitierten Arbeitslosen teilten sich ziemlich genau zu gleichen Teilen in weiblich und männlich auf.

PS: Immerhin gibt es bis zum 1. Mai 2014 eine Sonderausstellung im Waschsalon des Wiener Karl-Marx-Hofes.
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Adresse:
Waschsalon Nr. 2
Karl-Marx-Hof
Halteraugasse 7
1190 Wien

Die Bücher, aus denen die Zitate stammen:

  • Jahoda, Marie; Lazarsfeld, Paul; Zeisel, Hans; Die Arbeitslosen von Marienthal. ein soziographischer Versuch; erstmals erschienen 1933, Zitate aus: edition suhrkamp, erste Auflage 1975;  ISBN 978-3-518-10769-0
  • Riedl, Joachim, Herausgeber, Stadt der Juden, Die Welt der Tante Jolesch, Paul Zsolnay Verlag Wien 2004, ISBN 3-552-05323-9