Der Mythos vom „Digital Native“

Digitale Eingeborene

Oder Digital Immigrants? Wenn Worte irren, sind selbst ernannte Experten nahe.

Stimmt schon, Worte können nicht irren, nur ihre Urheber. Die sind verstreut in der Medienlandschaft anzutreffen, zum Beispiel im Standard.  Wenn es nach den Autoren geht, versteht man unter dem Begriff schlicht und einfach alle nach 1980 Geborenen.

Meine Tochter, Jahrgang 1985, würde herzhaft lachen, wenn ich sie als „Digital Native“ (=Ditschitl Ne-itif, siehe große Ledersbergersche Rechtschreibreform) bezeichnen würde.

Als ich ihr vor einem Jahr, gegen ihren Willen, ein Smartphone geschenkt habe — ich gestehe, ich tat es mit ein wenig väterlichem Spott — , war sie genervt. Ein Jahr später hat sich daran … nichts geändert.

„Ich finde es total blöd, wenn Menschen auf der Straße gehen, in ihr Handy starren und nichts um sich herum wahrnehmen.“

Leistung ist alles

Die Autoren im Standard haben andere Merkmale der jungen Generation gefunden, etwa diese:
„Sie wollen arbeiten, wann sie wollen und wo sie wollen, sich eigenartig zu fühlen, wenn sie um 16 Uhr das Büro verlassen, weil sie ihre Arbeit erledigt haben, käme ihnen nicht im Entferntesten in den Sinn.“

So gesehen erinnerten diese Menschen eher an emsige (digitale) Ameisen als an digitale Ureinwohner.

Und der Satz „Diese Generation ist selbstbewusst, hat klare Vorstellungen vom beruflichen Weg und will von den zukünftigen Arbeitgebern umworben werden.“ steht meiner Ansicht nach in krassem Gegensatz zu einer Wirklichkeit, in der die Arbeitslosigkeit mittlerweile auch unter gut Ausgebildeten, also etwa Universitätsabgängern, immer größer wird.

Junge Menschen stehen heute unter enormen Druck, sich gegen andere durchzusetzen. Keine Rede von selbstbewussten Menschen, die umworben werden wollen, dazu gibt es zu viele von ihnen.

In der ganz normalen Wirklichkeit geht es um einen Arbeitsplatz, der das einfache Überleben sichert. Nicht selten gibt es für die Ausschreibung einer Stelle hunderte Bewerber. Und die sollen von zukünftigen Arbeit„gebern“ umworben werden? Ein eher lachhafter Gedankengang.

Wer kann da selbstbewusst sein? Jene, die einen finanziell gesicherten Hintergrund haben, sprich: reiche Erben sind.
Und noch ein paar andere, die hierzulande eher als Störenfriede denn als Bereicherung angesehen werden.

Relativierung

Ein Blick über den so genannten Tellerrand ergibt ohnehin ein etwas anderes Bild:
In Südkorea sind zwar 99,6 % der 15- bis 24jährigen online (ob sie sich dort bilden oder Spiele spielen spielt jetzt keine Rolle), in Timor sind es weniger als 1 %.

In anderen Ländern gibt es überhaupt keine Möglichkeit, das Internet aufzusuchen.

Auch hier ist es eine Frage des Reichtums, ob ein Zugang vorhanden ist:
„The countries with the highest proportion of digital natives among their population are mostly rich nations, which have high levels of overall Internet penetration. Iceland is at the top of the list with 13.9 percent. The United States is sixth (13.1 percent). A big surprise is Malaysia, a middle-income country with one of the highest proportions of digital natives (ranked 4th at 13.4 percent). Malaysia has a strong history of investing in educational technology.“

Wem nützt das alles?

Jedenfalls jenen Unternehmen, die elektronische Gegenstände produzieren, Leitungen verlegen oder Datenwolken zur Verfügung stellen.

Es wird niemanden überraschen, dass diese Unternehmen nicht in Timor oder Mali arbeiten lassen. (Vielleicht überlegen sie, dort ihre Steuern zu bezahlen?)

Außerdem handelt es sich beim „Digital Native“, der über die (ehemals) neuen Medien total Bescheid weiß, sie durchschaut und für die eigene persönliche Entwicklung nutzt, ohnehin um einen Mythos, der aber Profit verspricht.

Die Nachrichten erinnern an die Sätze von Clifford Stoll oder Joseph Weizenbaum. Sinngemäß stand dort, dass es immer wieder die Hoffnung gab, dass Menschen durch technische Erfindungen gebildeter, klüger oder gar weiser würden. Das waren etwa das Radio, das Fernsehgerät, Videorecorder und seit einigen Jahren E-Learning, DVDs und Datenwolken, kurzum das Internet.

Sie kosteten allesamt viel Geld, das in die Bilanzen verschiedener Unternehmen floss, meistens als großartiger Gewinn.

Propagiert wurden die „neuen“ Medien auch von idealistischen, also gratis arbeitenden Menschen, die hofften, dass junge Menschen die Möglichkeiten des Internets für ihre Bildung verwendeten.

Sie waren — hoffentlich unbewusst — Wegbereiter für Unternehmen, die viel Geld damit verdienen und bereits 1999 so wunderbare Sätze verlautbarten wie diesen:
„Linda Hahner, die Präsidentin der Designfirma Out oft he Blue: … Wenn man nur genügend Werkzeuge zur Verfügung stellt, werden Kinder in der Lage sein, ihre eigenen Raumfahrzeuge zu entwickeln.
Ich bin ehrlich gesagt viel mehr beeindruckt, wenn ein Zwölfjähriger ein Segelflugzeug aus Balsaholz basteln kann.“
(Clifford Stoll, LogOut — Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben, S. 28)

Das Internet als Wunderwuzzi für alles Mögliche, die „Digital Natives“ als Wegbereiter, die Welt auf dem Weg zum Paradies!

Alles besser! Oder?

„Im nächsten Jahrzehnt wird ein Grundschüler von der Schule nach Hause kommen und sich, statt Nintendo zu spielen, in die Library of Congress einloggen und das gesamt Universum der Information zu durchforschen.“ (S. 135)
So verkündete es ein gewisser Al Gore, Unternehmer, Politiker und Umweltschützer, noch 1993.

Ich glaube nicht, dass ihm viele Lehrerinnen und Lehrer heute, mehr als 20 Jahre danach, zustimmen können. Ich vermute, Grundschüler sehen auf Facebook nach, wer gerade wo was macht. Oder spielen online spannende Spiele.

Der geborene Mechaniker

Besser gesagt: the native auto mechanic — gab es den jemals?

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Autos und Autobahnen sich ähnlich schnell verbreiteten wie in den letzten Jahren Computer und Internet.

War ich also ein „native auto mechanic“, weil ich Autofahren konnte?

Oder interessierte mich der Vorgang, der sich vorne unter der Motorhaube abspielte, überhaupt nicht? Verstand ich mein Auto also gar nicht und benutzte es nur? Schließlich gab es Mechaniker, die mein Auto notfalls reparierten.

Interessiert die „digital natives“, wie ein Computer, Handy oder Tablet funktioniert? Wohl auch nicht. Sie benutzen die Dinger — oder auch nicht, wie meine Tochter.

Und so wie es zu meiner Zeit keine „native auto mechanics“ gab, gibt es heute keine „digital natives“.

Aber als Werbeträger für die Verbreitung von schnellen Datenverbindungen taugt der Mythos von ihnen ganz gut.

Und bis die Welt erkannt hat, dass schnelle Datenverbindungen niemandem helfen außer den Erzeugern, dauert es noch einige Zeit. Dann werden sich Menschen wundern, dass man simple Geräte, die bloß funktionieren sollten, für eine weltbewegende und bildungsfördernde Erfindung der Menschheit gehalten hat.

 

 

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