Die österreichische Leitkultur – Teil 2


Von der Bildung

Der letzte Splitter beschäftigte sich mit dem Patriotismus, der in Österreich eine bescheidene Rolle spielt. Innsbrucks Universität ist zum Beispiel stolz darauf, unter den 200 besten Universitäten der Welt zu sein. Platz 187 wird als toller Erfolg gefeiert! Und weil wir gerade bei der Leistungsbeurteilung sind, heute „ranking“ genannt, darf die Bildung unterhalb der Unis nicht fehlen.

Wir kennen alle das Gerede vom lebenslangen Lernen, neudeutsch „Long Life Learning“ genannt. Dieses Motto hat sich die EU auf die europäische Fahne geklebt und will alle Menschen, nein, nicht glücklich, sondern bloß gebildet machen. Wer bei PISA schlecht abschneidet, beginnt auf der Stelle zu jammern und zu wehklagen. Das entspricht, wie schon geschrieben, nicht der österreichischen Leitkultur. Wien wird hier ausgenommen, denn jammern gehört dort zum Alltag wie der Speckknödel zu Tirol. Aber, wie schon gesagt, die österreichische Leitkultur kennzeichnet aus, dass sie regionale Abarten zulässt.

Bildung also. PISA bescheinigt uns, dass etwa 26 Prozent unserer 15-jährigen Jugendlichen nicht sinnerfassend lesen können, sich also auf die Überschriften der Kronenzeitung beschränken müssen. Weitere 6 Prozent wurden nicht getestet, weil sie zwar 15 Jahre alt sind, aber die Schule bereits ohne Abschluss verlassen haben, schließlich genügen neun Jahre Schulpflicht, auch wenn das nicht zum Lesen reicht.

Na und?, fragt man sich. Versäumt man etwas? Ist ein Mensch, der die Nachrichten lesen kann, wirklich besser dran als einer, der nichts von Unwettern, Kriegen oder Hungersnöten weiß?

So erweist sich die schlechte Platzierung bei PISA als Glück für die Betroffenen: Sie wissen nichts von der bösen Welt da draußen und erfreuen sich an ihrer Unwissenheit. Die wiederum sorgt für stabile Verhältnisse und einen Wirtschaftsstandort, um den uns alle beneiden. Die Welt mag untergehen, tu, felix Austria, dorme — du, glückliches Österreich, schlafe. Früher „nube“, also heirate, aber das galt nur bei den Habsburgern, weil die sich Konkubinen leisten konnten.

Von den Gesetzen

Früher dachte ich, Gesetze seien in unserem Land dazu da eingehalten zu werden. Ich fuhr beispielsweise mit meinem Auto nie mehr als 130 kmh. Auf der Autobahn, wohlgemerkt, nicht in einer Großstadt wie etwa Innsbruck. Wenn mir langweilig war, zählte ich alle, die mich überholten. Von Zirl nach Kufstein waren das so viele, dass ich mein Handy benutzen hätte müssen, um mir die Zahl zu merken.

Das tat ich nicht, weil das verboten ist und so weiß ich bis heute nicht die exakte Zahl im Verhältnis zu den einzelnen Fahrten. Ein Bericht vor vielen Jahren hätte mir klarmachen müssen, dass ich mit meinem Verhalten die österreichische Leitkultur missachtete. In der Studie wurde die Durchschnittsgeschwindigkeit der Autos gemessen und man erhielt den Wert 129,9 kmh.

Als begabtem Mathematiker hätte mir klar sein müssen, dass daher ein erheblicher Teil der Autos sich mit mehr als 130 kmh auf der Autobahn bewegt, schließlich fahren LKW nicht dauernd 130 kmh. Allerdings passte ich mich der hiesigen Kultur nicht an, sondern beharrte auf meinen maximal 130 kmh, wodurch ich die Durchschnittsgeschwindigkeit österreichischer Autofahrer erheblich nach unten drückte.

Auch die 30 kmh Anordnung in manchen Straßen hielt ich konsequent ein. Kein Wundern, dass mich Autos vor einem Zebrastreifen empört überholten und Fahrer mir unmissverständlich klar machten, dass ich völlig wahnsinnig geworden sei. Ich blieb stur bei 30 kmh.

Selbst das auf einem Zebrastreifen parkende Polizeiauto, dessen Fahrer ich, nachdem ich einen Parkplatz gefunden hatte, mit einer Wurstsemmel beim Bankomaten traf, brachte mich nicht zum Umdenken.

Ich war, um es in aller Klarheit auszudrücken, ein völlig unangepasster Mensch, der die Mehrheit der Bevölkerung zum Wahnsinn trieb. Ein Michael Kohlhaas auf der Insel der Seligen.

Aber ich habe aus meinen Irrtümern gelernt!

Seit ich mit dem Auto durch Fußgängerzonen fahren, Mindesttempo 40 kmh, seit ich als Radfahrer prinzipiell Gehsteige und ausschließlich bei Rot den Zebrastreifen benutze, seit ich als Fußgänger die Augen schließe, wenn ich eine Straße überquere, ist alles bestens.

Menschen lächeln mir anerkennend zu, Kinder springen schreiend zur Seite, frei laufende Hunde jagen mir hinterher. Und wenn sich jemand aufregt, weiß ich: Ein Ausländer! Oder zumindest jemand mit Migrationshintergrund.

Ich spreche aus Erfahrung, ich habe auch einen Migrationshintergrund. Mein Großvater mütterlicherseits zog Ende des 19. Jahrhunderts von Böhmen nach Wien. Er war Schuster und erhoffte sich wahrscheinlich ein besseres Leben. Ein Wirtschaftsflüchtling der zu Ende gehenden Monarchie, noch dazu Sozialdemokrat. Mit solcher Migrationsbürde war eine Assimilation von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zumindest in den ersten Generationen.

Mein Onkel landete daher im „Anhaltelager Wöllersdorf“, wohin die Christlichsozialen im Ständestaat ihre Feinde brachten. Einige hatten sie davor umgebracht, aber wer nicht hören will, muss eben fühlen. Noch mein Vater fürchtete sich nach Ende des 2. Weltkriegs so sehr vor den katholisch gesinnten Christen, dass er mich taufen ließ.

„Die kommen wieder“, war sein Credo und er wollte für mich, seinen Sohn, keine Diskriminierung, bloß weil er, mein Vater, Atheist war. So lernte ich katholische Hölle samt Fegefeuer und Himmel in der Volksschule kennen.

Aber das gehört schon zum nächsten Teil der österreichischen Leitkultur, der Religion. Darüber mehr demnächst.

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